Bericht aus der Saarbrücker Zeitung vom 9. September 2003
http://www.sol.de/szimnetz/themendestages/2825,475744.html?fCMS=7963705183a4bbc422cc00da251c8baa#?fCMS=7963705183a4bbc422cc00da251c8baa
Arbeitslose werden zur Selbstunterwerfung gezwungen
Richter am Bundesverwaltungsgericht hält Clement-Pläne zur
Arbeitsmarkt-Reform für verfassungswidrig
Von NORBERT FREUND
Saarbrücken. Monatelang haben die zuständigen Beamten im
Bundeswirtschaftsministerium mit Hochdruck am Gesetzentwurf "Hartz IV"
für eine Reform des Arbeitsmarkts gearbeitet, haben Überstunden noch und
noch geschoben. Denn bis zum Jahresende will ihr ehrgeiziger Dienstherr,
Minister Wolfgang Clement, die Reform durch Bundestag und Bundesrat
gebracht haben.
Gut möglich, dass Minister Clements fleißige Beamte jetzt noch einmal
nachsitzen müssen. Denn ihr Entwurf weist nach Einschätzung des Richters
am Bundesverwaltungsgericht, Professor Uwe Berlit, schwere
verfassungsrechtliche Mängel auf. Das geht aus einem bislang
unveröffentlichten Aufsatz Berlits hervor, der in der juristischen
Fachzeitschrift "Informationen zum Arbeitslosenrecht und
Sozialhilferecht" erscheinen soll. Seine besondere Brisanz gewinnt der
Beitrag vor dem Hintergrund, dass das Bundesverwaltungsgericht künftig
die höchstrichterliche Entscheidungsinstanz bei Rechtsstreitigkeiten
zwischen Arbeitslosen und der Arbeitsverwaltung sein soll.
Berlit kritisiert in seinem Aufsatz, dass Arbeitslose nach dem Willen
Clements gezwungen werden sollen, eine "Eingliederungsvereinbarung" mit
der Arbeitsverwaltung abzuschließen. Dies greife "unverhältnismäßig" in
die durch Artikel 2 Grundgesetz geschützte Vertragsfreiheit ein. Der
Rückgriff auf die Vertragsform stelle einen "Formenmiss-brauch des
Gesetzgebers" dar, dem auch das Sozialstaats-gebot nach Artikel 20
Grundgesetz entgegen stehe. Denn die Arbeitslosen würden damit einem "sanktionsbewehrten
Zwang zur rechtsgeschäftlichen Selbstunterwerfung" ausgesetzt.
Darüber hinaus ist nach Auffassung des Richters am
Bundesverwaltungsgericht die Rechtsschutzgarantie nach Artikel 19
Grundgesetz in Frage gestellt. Denn den Arbeitslosen könne für den Fall,
dass sie sich später gegen den Inhalt der Eingliederungsvereinbarung zur
Wehr setzen, immer "ihre Zustimmung zum Vertrag entgegengehalten
werden". Nach Ansicht von Berlit ist dies um so gravierender, als nach
Clements Gesetzentwurf "auch objektiv willkürliche, fachlich sinnwidrige
oder solche Eingliederungs-leistungsangebote, die vertretbare und Erfolg
versprechende Eigenplanungen" der Arbeitslosen "konterkarieren", als
"zumutbar" gelten würden. Die Betroffenen hätten daher "keinen wirksamen
Schutz" vor "unqualifizierten, überforderten oder gar böswilligen
Fallmanagern" der Arbeitsverwaltung.
Nach Clements Entwurf müssen Arbeitslose, die momentan nicht auf dem
ersten Arbeitsmarkt vermittelbar sind, auch sonstige
"Arbeitsgelegenheiten" übernehmen, für die sie nur eine geringe
Aufwandsentschädigung erhalten - und zwar auch dann, wenn dies ihre
Eingliederungschancen auf dem ersten Arbeitsmarkt nicht erhöht. Bei
Ablehnung dieser Arbeiten sind verschärfte Sanktionen vorgesehen. Berlit
wirft die Frage auf, ob solche Sanktionen nicht mit dem Verbot der
Zwangsarbeit nach Artikel 12 Grundgesetz kollidieren könnten. Diese
Frage stelle sich "zumindest" dann, "wenn die Arbeitskraft nicht zu
marktnahen Bedingungen eingesetzt werden soll".
Keine "armutsfeste" Leistung
Darüber hinaus wird die für das Arbeitslosengeld II und die reformierte
Sozialhilfe geplante Leistungs-bemessung nach Auffassung von Berlit zu
einer "Vielzahl von Verletzungen" des Bedarfsdeckungsprin-zips führen,
das wegen des Sozialstaatsgebots zwingend zu beachten sei. Das Ziel
einer "armutsfesten" Leistung werde verfehlt. Der Richter kritisiert vor
allem die Pauschalierung bisheriger "einmaliger Leistungen" des
Sozialhilferechts und deren Einbeziehung in die Regelsätze. Zum einen
würden Leistungen pauschaliert, die "nicht sinnvoll pauschalierbar"
seien. Zum anderen seien die Pauschalen so knapp bemessen, dass für
einmalige Sonderbedarfe kein "Puffer" vorhanden sei. Auch fehlten
Härtefallregelungen.
Verfassungsrechtlich fragwürdig ist nach Einschätzung von Berlit nicht
zuletzt, dass Clement keinerlei Kriterien für die Leistungshöhe benannt
und es außerdem unterlassen habe, die Regelsätze "auf der Grundlage
eines Statistikmodells und einer aktuellen, methodisch sauber
aufbereiteten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe" festzusetzen.
Erhebliche Bedenken hat Berlit ferner gegen die im Gesetzentwurf
enthaltene Verordnungsermächtigung, die es Clement erlauben würde, im
Einvernehmen mit Bundesfinanzminister Hans Eichel zu bestimmen, "welche
Aufwendungen für Unterkunft und Heizung angemessen sind". Diese
Verordnungsermächtigung genüge nicht dem Bestimmtheitsgebot nach Artikel
80 Absatz 1 Grundgesetz.