Inhaltsverzeichnis
1.
Einleitung |
S. 3 |
2.
Entscheidungserheblichkeit
a)
Bescheid auf Grundlage des § 31 a i. V.
m. § 31 SGB II
b)
Keine Rechtswidrigkeit des Bescheids aus
anderen Gründen
c)
Unterschiedliches Ergebnis im
Rechtsstreit |
S. 5 |
3.
Verfassungswidrigkeit der §§ 31 ff. SGB II
a)
Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art.
20 Abs. 1 GG
aa)
Konkretisierung des Grundrechtsumfangs durch den Gesetzgeber
bb)
Verfassungsgerichtliche Kontrolle des Grundrechts
cc)
Einheitliches Grundrecht
dd)
Ausgestaltung durch §§ 20 ff. SGB II
ee)
Mangelnde Ausgestaltung durch §§ 31 ff. SGB II
ff)
Sanktionen als unzulässiger Eingriff
gg)
Evidente Bedarfsunterschreitung
hh) Keine
Selbsthilfeobliegenheit zum Erwerb des Existenzminimums
ii)
Absehen von Verhältnismäßigkeitsprüfung
jj)
Zwischenergebnis
b)
Verstoß gegen Art. 12 Abs. 1 GG
aa)
Eingriff in den Schutzbereich
bb) Keine
verfassungsrechtliche Rechtfertigung
cc)
Zwischenergebnis
c)
Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG
aa)
Schutzpflicht zur Gewährleistung von Leben und körperlicher
Unversehrtheit
bb)
Schutzpflichtverletzung
cc)
Zwischenergebnis |
S. 7 |
4.
Verfassungskonforme Auslegung
a)
Allgemeine Auslegungsgrundsätze
b)
Keine verfassungskonforme Auslegung des §
31 a Abs. 1 und 2 SGB II
c)
Keine verfassungskonforme „Anwendung“
durch § 31 a Abs. 3 SGB III
d)
Zwischenergebnis |
S. 36 |
5.
Ergebnis |
S. 42 |
ANHANG: Meinungsstand in Literatur und Rechtsprechung |
S. 43 |
1. Einleitung
Das
Bundesverfassungsgericht hat in jüngster Zeit bereits zweimal
Gesetze, die von ihrer gesetzgeberischen Intention her der
Zusicherung des menschenwürdigen Existenzminimums dienen sollten,
aufgrund ihrer Unvereinbarkeit mit dem Grundrecht auf ein
menschenwürdiges Existenzminimum für verfassungswidrig erklärt:
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010 („Regelsatz-Entscheidung“),
BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012 („Entscheidung zu Leistungen im
AsylbLG“).
Derzeit ist erneut ein Vorlageverfahren bezüglich der
Regelbedarfshöhe nach §§ 20 ff. SGB II anhängig (SG Berlin, S 55 AS
9238/12 vom 25.4.2012).
Das
Bundesverfassungsgericht hat bisher nicht über die
Verfassungsmäßigkeit von Leistungskürzungen nach §§ 31 ff. SGB II
entschieden. Dies trifft auf die alte und neue Fassung dieser
Vorschriften und ebenfalls auf die Vorgängervorschrift des § 25 BSHG
zu.
Das
Bundesverfassungsgericht hat sich in seiner Entscheidung vom
9.2.2010 lediglich mit der sogenannten Ansparkonzeption des
Gesetzgebers auseinander gesetzt:
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 150.
Bei
diesem in § 24 Abs. 1 SGB II (entspricht § 23 a. F. SGB II) i. V. m.
§ 42a Abs. 2 S. 1 SGB II etablierten Modell kommt es aufgrund der
Rückzahlung eines Darlehens vorübergehend zu einer um 10 %
verminderten Auszahlung des nach § 20 SGB II gewährten Regelbedarfs.
Es handelt sich dabei jedoch nur um eine aufrechnungsbedingte
Verschiebung, d. h. zeitversetzte Auszahlung der laufenden
Leistung, nicht hingegen um ihre absolute Verkürzung. Durch die
„Ansparkonzeption“ wird über einen bestimmten Zeitraum eine
verminderte Leistung ausgezahlt, weil es zu einem früheren Zeitpunkt
zur Auszahlung eines höheren (Darlehens-)Betrages gekommen ist.
Durch die gleichsam „vorgeschossene“ Leistung besteht für die
Betroffenen die Möglichkeit eines „internen Ausgleichs“.
Sanktionen nach § 31a SGB II hingegen stellen eine absolute
Kürzung der Regelleistung dar, bei der es gerade keine
Möglichkeit zum Ausgleich gibt.
Das
Bundesverfassungsgericht hat 1987 die kurzzeitige prozentuale
Kürzung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld aufgrund eines
Meldeversäumnisses für unzulässig gehalten:
„Soweit ein Arbeitsloser aus Unerfahrenheit, Unverständnis für
Verwaltungsvorgänge, aus Unachtsamkeit oder anderen Gründen, welche
nicht als ,wichtig` i. S. des § 120 I AFG zu qualifizieren sind,
seine Meldepflicht nicht einhält, ist die ausnahmslose pauschale
Kürzung des Arbeitslosengeldes unzumutbar. [...] Dieser
Personenkreis wird jedenfalls gegenüber solchen Arbeitslosen
unverhältnismäßig benachteiligt, bei denen eine Säumnis zu keinerlei
Kürzungen führt, weil ihnen etwa ein wichtiger Grund i. S. des § 120
I AFG zur Seite steht. Beide Personenkreise unterscheiden sich nicht
so erheblich voneinander, daß die beanstandete Regelung vertretbar
wäre.“
BVerfG, 10.2.1987 - 1 BvL 15/83, NJW 1987, 1929 f. (1930).
Da
das Arbeitslosengeld I im Unterschied zum Arbeitslosengeld II eine
Versicherungsleistung und damit vom Eigentumsschutz des Art. 14 Abs.
1 GG umfasst ist, lassen sich zwar aus dieser Entscheidung keine
unmittelbaren Rückschlüsse für die
verfassungsrechtliche Beurteilung von Leistungskürzungen nach dem
SGB II ziehen.
Doch
eine Vielzahl von Indizien und verfassungsrechtlichen Annahmen in
den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 9.2.2010 und
vom 18.7.2012, sprechen klar und unmissverständlich für die
Verfassungswidrigkeit von Sanktionen nach §§ 31 ff. SGB II.
Der
Unterzeichner verkennt nicht, dass das entscheidende Gericht nicht
nur etwaige Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes
haben, sondern überzeugt sein muss, dass die maßgebenden
Rechtsnormen verfassungswidrig sind und wegen des Verstoßes gegen
das Grundgesetz so nicht angewendet werden dürfen. Das Gericht muss
in eigener Verantwortung entscheiden und dabei auch eine
verfassungskonforme Auslegung für sich ausschließen:
vgl. BVerfGE 68, 337 (344).
Die
nachfolgend dargestellten Argumente zielen darauf ab, das Gericht
von der Verfassungswidrigkeit der §§ 31 ff. SGB II, insbesondere von
der Unvereinbarkeit des § 31a SGB II mit dem Grundrecht auf ein
menschenwürdiges Existenzminimum aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art.
20 Abs. 1 GG, aber auch mit Art. 12 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG
und Art. 3 Abs. 1 GG, zu überzeugen.
2. Entscheidungserheblichkeit
Eine Vorlage an das
Bundesverfassungsgericht ist zulässig, wenn die Endentscheidung des
vorlegenden Gerichts von der Gültigkeit eines für verfassungswidrig
gehaltenen Gesetzes abhängt.
Vgl. BVerfGE 50, 108 (113).
Das
setzt voraus, dass das Gericht sich klar darüber ausspricht, dass und
wann es bei Gültigkeit der Norm anders entscheiden würde als bei ihrer
Ungültigkeit; denn nur dann kommt es bei der Entscheidung auf die
Gültigkeit der Norm an.
Vgl. BVerfGE 11, 330 (334 f.).
Das
Bundesverfassungsgericht geht dabei grundsätzlich von der
Rechtsansicht des vorlegenden Gerichts aus, sofern dessen Auffassung
nicht offensichtlich unvertretbar ist:
vgl. BVerfGE 50, 108 (112).
Die
Klärung der Vorlagefrage ist zur Beurteilung des Streitfalles
unerlässlich. Eine Entscheidung des Gerichts ohne vorherige
Beantwortung der Vorlagefrage scheidet aus, weil sich die Regelungen
der §§ 31 ff. SGB II unmittelbar auf die streitgegenständlichen
Ansprüche des Klägers auswirken.
Im
vorliegenden Rechtsstreit ist fraglich, ob die Beklagte den
Sanktionsbescheid gegen den Kläger erlassen durfte.
§ 31a Abs. 1 i. V. m. § 31 und § 31b SGB II ist
entscheidungserheblich, da die Beklagte auf dieser Grundlage den
streitgegenständlichen Sanktionsbescheid erlassen hat (a), der
Bescheid nicht aus anderen Gründen rechtswidrig bzw. nichtig ist
(b) und die Anwendung/Nichtanwendung der maßgeblichen Rechtsnormen
zu unterschiedlichen Ergebnissen führen würde (c).
a) Bescheid auf Grundlage des § 31a i. V. m. § 31 SGB II
/ § 32 SGB II
Ohne
die Gültigkeit der §§ 31 ff. kann ein Sanktionsbescheid nicht
rechtmäßig ergehen. Der Sanktionsbescheid wurde von der Beklagten auch
auf dieser gesetzlichen Grundlage erlassen. In dem Bescheid wird
ausdrücklich auf die Rechtsnormen Bezug genommen.
b) Keine Rechtswidrigkeit des Bescheids aus anderen
Gründen
Die
durch die Beklagte erlassene Leistungskürzung nach § 31a SGB II
ist nicht bereits aus anderen Gründen rechtswidrig bzw. nichtig.
Die
tatbestandlichen Voraussetzungen des § 31a i. V. m. § 31 SGB II liegen
vor.
c) Unterschiedliches Ergebnis im Rechtsstreit
Sofern die Rechtsnormen der §§ 31 ff. SGB II angewendet würden, wäre
die Klage abzuweisen. Denn der angefochtene Bescheid der
Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheides wäre dann
rechtmäßig. Dagegen müsste der Klage stattgegeben werden, wenn
die vorgelegten Rechtsnormen aufgrund ihrer Unvereinbarkeit mit dem
Grundgesetz nicht angewendet werden dürften. Dann nämlich wäre der
Sanktionsbescheid rechtswidrig und der Kläger hätte im
streitgegenständlichen Zeitraum einen ungekürzten Anspruch auf
Leistungen nach dem SGB II.
3. Verfassungswidrigkeit der
§§ 31 ff. SGB II
Leistungskürzungen gemäß §§ 31 ff. SGB II verstoßen gegen das
Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums
aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs.
1 GG (a). Sie verletzen weiterhin die negative Berufsfreiheit
aus Art. 12 Abs. 1 GG (b) und das Recht auf Leben und
körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG (c).
a) Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1
GG
Das
Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums
ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG:
Urteil des Ersten Senats des BVerfG vom 9.2.2010 – 1 BvL 1/09; Urteil
des Ersten Senats des BVerfG vom 18.7.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11.
Es
handelt sich um ein verfassungsunmittelbares
Leistungsgrundrecht:
BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012; Starck, in: Mangoldt/Klein/Starck,
GG, 6. Auflage, 2010, Art. 1 Rn. 41; Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG,
Stand: 66. Lieferung 2012, Art. 1, Rn. 121; Hufen, Staatsrecht II,
Grundrechte, 3. Auflage 2011, S. 150; Berlit, Minderung der
verfügbaren Mittel – Sanktionen und Aufrechnung im SGB II, ZFSH/SGB
2012, 562.
Dieses Grundrecht ist „dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst
werden“,
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 133.
Es
folgt aus Art. 1 Abs. 1 GG und hat
„als Gewährleistungsrecht in seiner Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG
neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung
der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung.“
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 133.
Die
anspruchsgewährenden Aspekte des Grundrechts ergeben sich aus Art. 1
Abs. 1 GG, wohingegen das Sozialstaatsprinzip einen Gestaltungsauftrag
an den Gesetzgeber enthält:
„Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch. Das Sozialstaatsgebot des
Art. 20 Abs. 1 GG wiederum erteilt dem Gesetzgeber den Auftrag, jedem
ein menschenwürdiges Existenzminimum zu sichern, wobei dem Gesetzgeber
ein Gestaltungsspielraum bei den unausweichlichen Wertungen zukommt,
die mit der Bestimmung der Höhe des Existenzminimums verbunden sind.“
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 133.
aa) Konkretisierung des Grundrechtsumfangs durch den Gesetzgeber
Das
Grundrecht bedarf der
„Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber,
der die zu erbringenden Leistungen an den jeweiligen Entwicklungsstand
des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten
hat. Dabei steht ihm ein Gestaltungsspielraum zu.“
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Leitsatz 2.
Hierbei ist zu beachten, dass das Bundesverfassungsgericht den
Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers und das Anpassungserfordernis
lediglich auf den konkreten Umfang des Leistungsanspruchs
bezieht, wohingegen es den individuellen Anspruch darauf für
„unmittelbar“ verfassungsrechtlich erklärt. Der Anspruch ist damit
durch den Gesetzgeber von vornherein bloß noch der Höhe nach zu
konkretisieren, wohingegen er „dem Grunde nach von der
Verfassung vorgegeben“ ist [Hervorh. d. Verf.].
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 135, 138.
Bei
der Ausgestaltung des (verfassungsunmittelbaren) Leistungsanspruchs
ist der Gesetzgeber nicht völlig frei. Er hat strenge Vorgaben des
Bundesverfassungsgerichts zu erfüllen, die sowohl Form als auch Inhalt
der Ausgestaltung betreffen:
„Die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums muss durch
einen gesetzlichen Anspruch gesichert sein. Dies verlangt bereits
unmittelbar der Schutzgehalt des Art. 1 Abs. 1 GG. Ein
Hilfebedürftiger darf nicht auf freiwillige Leistungen des Staates
oder Dritter verwiesen werden, deren Erbringung nicht durch ein
subjektives Recht des Hilfebedürftigen gewährleistet ist. Die
verfassungsrechtliche Gewährleistung eines menschenwürdigen
Existenzminimums muss durch ein Parlamentsgesetz erfolgen, das
einen konkreten Leistungsanspruch des Bürgers gegenüber dem
zuständigen Leistungsträger enthält.“ [Hervorh. d. Verf.]
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 136.
„Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er
stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf
jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt.“ [Hervorh. d. Verf.]
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 137.
„Zur Konkretisierung des Anspruchs hat der Gesetzgeber alle
existenznotwendigen Aufwendungen folgerichtig in einem
transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen
Bedarf, also realitätsgerecht, zu bemessen […].“ [Hervorh. d.
Verf.]
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 139.
Entscheidend ist demnach, dass der Gesetzgeber „seine Entscheidung an
den konkreten Bedarfen der Hilfebedürftigen ausrichtet“:
BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 93.
Der
gesetzliche Leistungsanspruch muss sich seiner Höhe nach also
an den tatsächlich bestehenden existenznotwendigen Bedarfen
orientieren.
Daneben macht das Bundesverfassungsgericht weitere Vorgaben zum
Umfang des Leistungsanspruchs. Das Grundrecht auf Gewährleistung
eines menschenwürdigen Existenzminimums umfasst danach nicht nur die
physische Existenz des Menschen, sondern auch ein Mindestmaß an
soziokultureller Teilhabe am gesellschaftlichen Leben:
vgl. BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 135.
Diese Entscheidung trägt der aktiven Schutzverpflichtung des Staates
Rechnung, die den Einzelnen ausgrenzenden Reaktionen der Gesellschaft
entgegenzuwirken hat. Das folgt bereits aus der konstituierenden
Bedeutung der Menschenwürde gemäß Art. 1 Abs. 1 GG. Hieran ist der
Gesetzgeber gebunden, wenn er seinem Ausgestaltungsauftrag bei der
Bestimmung des menschenwürdigen Existenzminimums nachkommt. Er muss
demnach neben dem physischen Überleben auch die soziale Teilhabe der
Hilfebedürftigen sichern:
vgl. BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 137; Starck, in:
Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. Auflage, 2010, Art. 1, Rn. 41.
bb)
Verfassungsgerichtliche Kontrolle des Grundrechts
Sowohl das Ausgestaltungsverfahren durch den Gesetzgeber, als auch der
Umfang des Grundrechts unterliegen der verfassungsgerichtlichen
Kontrolle.
Das Bundesverfassungsgericht
prüft zunächst, ob der Gesetzgeber „die erforderlichen
Tatsachen im Wesentlichen vollständig und zutreffend ermittelt“
hat und ob sich das Berechnungsverfahren nachvollziehen lässt:
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 143.
Aufgrund eines Verstoßes
gegen dieses Verfahren hat das Bundesverfassungsgericht sowohl die
alten Regelsätze als auch die Leistungen nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz für verfassungswidrig erklärt. Denn die
Leistungshöhe war
„weder nachvollziehbar berechnet worden noch ist eine
realitätsgerechte, auf Bedarfe orientierte und insofern
aktuell existenzsichernde Berechnung ersichtlich.“ [Hervorh. d.
Verf.]
BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 106.
Darüber hinaus nimmt das
Bundesverfassungsgericht auch eine Überprüfung der Höhe der zur
Deckung des menschenwürdigen Existenzminimums gewährten Leistungen im
Wege einer Evidenzkontrolle vor:
vgl. BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 152 ff.; BVerfG, 1 BvL
10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 107 ff.
Auf
diese Weise hat das Bundesverfassungsgericht zuletzt die Leistungen
nach dem Asylbewerberleistungsgesetz für verfassungswidrig erklärt und
– wie in seiner Entscheidung vom 9.2.2010 bereits bezüglich der
Leistungen für einen laufenden besonderen Bedarf – übergangsweise
selbst (höhere) Leistungen festgesetzt:
vgl. BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 107 ff., 124 ff.
Für
den Regelsatz nach den alten SGB-II-Normen hatte es hingegen eine
evidente Unterschreitung nicht festgestellt,
„weil die Regelleistung zur Sicherung der physischen Seite des
Existenzminimums zumindest ausreicht und der Gestaltungsspielraum des
Gesetzgebers bei der sozialen Seite des Existenzminimums weiter ist.“
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 152.
Die
hier durch das Bundesverfassungsgericht vorgenommene Trennung in ein
physisches und soziokulturelles Existenzminimum ist nur in zweierlei
Hinsicht von Bedeutung. Zum einen räumt es dem Gesetzgeber bei der
Ausgestaltung des physischen Existenzminimums einen engeren
Gestaltungsspielraum ein als bei der Regelung der soziokulturellen
Teilhabe,
vgl. BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 138.
Zum
anderen hat das Bundesverfassungsgericht offenbar die Evidenzkontrolle
bezüglich des Leistungsumfangs des einheitlichen Grundrechts
zum Zeitpunkt seiner „Regelsatz-Entscheidung“ (ggf. mangels
anderweitiger Daten) nur am physischen Existenzminimum orientiert:
vgl. BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 152.
cc) Einheitliches Grundrecht
Rechtsdogmatisch lässt sich das Gewährleistungsrecht auf ein
menschenwürdiges Existenzminimum indes nicht in einen (physischen)
„Kernbereich“ und einen darüber hinaus gehenden (soziokulturellen)
„Randbereich“ aufteilen.
Zu teilweise abweichenden Ansichten in der Literatur s. Anhang.
Vielmehr beinhaltet es eine
„einheitliche grundrechtliche Garantie, die sowohl die
physische Existenz des Menschen […] als auch die Sicherung
der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu
einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen,
kulturellen und politischen Leben umfasst.“ [Hervorh. d. Verf.]
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 90.
Der gesetzliche
Leistungsanspruch muss „stets den gesamten
existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers“ [Hervorh.
d. Verf.] decken.
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 137.
Es
sind im Übrigen keinerlei Kriterien ersichtlich, nach denen eine
Aufteilung oder Differenzierung in „Kern“ und „Randbereich“ des
Existenzminimums willkürfrei denkbar wäre und praktisch durch den
Gesetzgeber entsprechend zugeteilt werden könnte..
Auf
den Umstand der Unteilbarkeit der Leistungen hat die Bundesregierung
infolge der „Regelsatz-Entscheidung“ des Bundesverfassungsgerichts vom
9.2.2010 hingewiesen:
„Im Leistungsrecht des SGB II und des SGB XII wird entsprechend ein
Regelbedarf anerkannt, der insbesondere Ernährung, Kleidung,
Körperpflege, Hausrat, Haushaltsenergie sowie persönliche Bedürfnisse
des täglichen Lebens umfasst. Bei den sich ergebenden
Regelbedarfen handelt es sich um die Summen statistisch nachgewiesener
durchschnittlicher regelbedarfsrelevanter Verbrauchs-ausgaben.
Erbracht werden die Regelbedarfe als monatlicher Pauschalbetrag, der
ein monatliches Budget darstellt. In diesem Pauschalbetrag
lässt sich naturgemäß eine trennscharfe Unterscheidung von
,physischen` oder ,soziokulturellen` Bedarfen nicht vornehmen.
Die Verwendung dieses Betrages liegt zudem in der alleinigen
Verantwortung der Leistungsberechtigten. Rückschlüsse darauf, wofür
Leistungsberechtigte dieses monatliche Budget ausgeben, sind deshalb
nicht möglich. Eine Heranziehung der Einkommens- und
Verbrauchsstichprobe zur Bestimmung verschiedener Existenzminima
ist daher weder erforderlich noch sinnvoll.“ [Hervorh. d. Verf.]
Bundestags-Drucksache 17/6833, Antwort Kleine Anfrage, S. 4.
Auch das Landessozialgericht
Nordrhein-Westfalen ist einer „Aufspaltung“ des Existenzminimums
kürzlich entgegen getreten:
„Eine derartige Aufspaltung des Existenzminimums in einen
unantastbaren physischen Kernbereich und einen ganz oder teilweise
vernachlässigungsfähigen gesellschaftlich-kulturellen Teilhabebereich
ist jedoch mit dem einheitlichen Gewährleistungsumfang des
Grundrechts unvereinbar. Denn bietet Art. 1 Abs. 1 i.Vm. Art. 20 Abs.
1 GG - so ausdrücklich das BVerfG (vgl. a.a.O. Rn. 90 und 129) - eine
einheitliche grundrechtliche Garantie auf die zur Wahrung eines
menschenwürdigen Existenzminimums notwendigen materiellen
Voraussetzungen, so lässt dies keinen Raum für eine Reduzierung
des Grundrechts auf einen Kernbereich der physischen Existenz. Das
Minimum für die Existenz bezeichnet vielmehr bereits denklogisch einen
nicht unterschreitbaren Kern. Der gesamte Leistungsumfang des
Existenzminimums muss somit zugleich sein Mindestinhalt sein (so auch
Neskovic/Erdem, Zur Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei Hartz IV
- Zugleich eine Kritik am Bundesverfassungsgericht, in SGb 2012, S.
134 ff., 137), der ,in jedem Fall und zu jeder Zeit` gewährleistet
sein muss.“ [Herv. d. Verf.]
Landessozialgericht NRW, L 20 AY 153/12 B ER, 24.4.2013, Rn. 55.
dd) Ausgestaltung durch §§ 20 ff. SGB II
Der
Gesetzgeber hat mit den §§ 20 ff. SGB II, 28 ff. SGB XII eine
Bestimmung der Bedarfshöhe vorgenommen. Ausgehend von einer
Bedarfsberechnung erkennt er in §§ 20 ff. SGB II pauschalierte
Geldleistungen zu:
vgl. Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen nach § 28 SGB XII, insb.
§ 8 RBEG i. V. m. § 20 Abs. 2-4 SGB II; auch: Hannes in Gagel, SGB II,
§ 20 Rn. 3.
Dabei ist nicht ersichtlich, dass der Regelsatz des ALG II etwa als
Bonussystem ausgestaltet worden wäre, bei dem eine Sanktion lediglich
zur Absenkung der Leistungen auf die Höhe des Existenzminimums führen
würde, also nur „pflichtwidrig“ handelnde Leistungsbezieher auf das
Minimum reduziert würden und alle übrigen Hilfebedürftigen Leistungen
erheblich oberhalb dieses Niveaus erhielten.
Eine
solche Konstruktion, nach der der reguläre Sozialhilfeanspruch noch um
20 bis 30 % auf die „Höhe des zum Leben Unerlässlichen“, gesenkt
werden könnte, wurde von einigen Gerichten bei der Anwendung der
früheren Vorschrift des § 25 BSHG angenommen,
z. B. Hess. VGH, 6 S 307/89 vom 4.4.1989, Rn. 5; VGH Ba-Wü, 7 S
1755/99 vom 11.10.1999, Rn. 12,
und
findet sich mitunter auch noch in der Kommentarliteratur zum SGB II,
indem unterhalb des gesetzlichen Existenzminimums noch ein
„Kernbereich“, meist eine Art „physisches Existenzminimum“ konstruiert
wird;
näheres dazu s. Anhang.
Dann
müsste der volle Regelsatz des Arbeitslosengeldes II nach §§ 20 SGB II
über das menschenwürdige Existenzminimum hinausgehen,
vgl. dazu Berlit, ZFSH SGB 10/2012, S. 561 ff. (564).
Gegen die Annahme, der Gesetzgeber habe eine Regelleistung festlegen
wollen, die irgendwo (undefiniert und undefinierbar) oberhalb
des Existenzminimums angesiedelt ist, spricht jedoch entscheidend die
mit der Einführung der Regelbedarfe des SGB II durch den Gesetzgeber
vorgenommene Bedarfsberechnung im Sinne einer Festsetzung der für das
physische Überleben und die kulturelle Teilhabe unbedingt zu
gewährleistenden Bedarfe. Sinn und Zweck der Neufassung der
SGB-II-Leistungsnormen war die Erfüllung der Vorgaben des
Bundesverfassungsgerichts nach einem transparenten
Berechnungsverfahren zur Bestimmung der Leistungen zur Sicherung des
menschenwürdigen Existenzminimums:
vgl. Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von
Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches
Sozialgesetzbuch, S. 1, A. Problem und Ziel; Hannes in Gagel, SGB II,
§ 20 Rn. 5, 10 ff., 90.
Ausweislich der vorgenommenen Berechnungen, die ihren Niederschlag in
den Festsetzungen des Regelbedarfs-Ermittlungsgesetzes gefunden haben,
handelt es sich um Bedarfe, die zur Deckung des gesellschaftlich
anerkannten Minimums erforderlich sind, also eben so ausreichen
(sollen). Die mindestens erforderlichen Bedarfe für eine
menschenwürdige Existenz können aber weder logisch noch begrifflich
weiter unterschritten werden.
Eine
exakte Berechnung durch Heranziehung statistischer Verbraucherausgaben
hat zu einer (möglicherweise nicht einmal ausreichenden) Festsetzung
von Leistungen geführt. Die Leistungshöhen im SGB II und SGB XII für
Ein- und Mehr-Personen-Haushalte und für Kinder sowie die
Mehrbedarfszuschläge entsprechen dieser Berechnung, ohne dass
dabei ein zusätzlicher, nicht durch die Berechnung selbst intendierter
Betrag als „Bonuszuschlag“ oberhalb des vom Gesetzgeber als
erforderlich angesehenen Pauschalbetrags gewährt wird.
Von
der Intention des Gesetzgebers, mit den Regelsätzen des SGB II gerade
das menschenwürdige Existenzminimum zu sichern, geht auch das
Bundesverfassungsgericht aus:
„Die Normen des Regelbedarfs-Ermittlungsgesetzes sind ausweislich der
Stellungnahme der Bundesregierung in diesem Verfahren die einzig
verfügbare, durch den Gesetzgeber vorgenommene und angesichts
seines Gestaltungsspielraums wertende Bestimmung der Höhe von
Leistungen zur Sicherstellung eines menschenwürdigen
Existenzminimums.“ [Hervorh. d. Verf.]
BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 126.
ee)
Mangelnde Ausgestaltung durch §§ 31 ff. SGB II
Die
§ 31a i. V. m. § 30, § 31b SGB II verstoßen bereits durch die Kopplung
der Leistungsgewährung an ein bestimmtes Verhalten des
Betroffenen gegen das Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung
mit Art. 20 Abs. 1 GG.
Die
Sanktionsnormen sind nämlich ganz offenkundig nicht zum Zwecke und
unter Berücksichtigung einer Bedarfsberechnung eingefügt
worden. Bezüglich der nach einer Sanktion verbleibenden
Leistung liegt keine Bedarfsbestimmung vor: Die Leistung ist in keiner
Weise gesetzlich berechnet oder auch nur in Bedarfspositionen
festgelegt. Dies stellt einen mangelhaften gesetzgeberischen
Ausgestaltungsakt dar.
Normen, die eine pauschale prozentuale Kürzung pro (jede)
Pflichtverletzung vorsehen, berechnen keinen tatsächlichen Bedarf,
sondern ignorieren ihn. Bei einer Leistungskürzung nach § 31a SGB II/§
besteht keinerlei Zusammenhang zwischen der restlichen Leistung
und dem gegenwärtigen Bedarf der Hilfebedürftigen. Der
Sanktionsmechanismus ist vielmehr unabhängig von real
existierenden Bedarfen. Der Gesetzgeber hat die volle Erbringung der
durch ihn berechneten Leistung stattdessen an
Mitwirkungspflichten, d. h. an ein bestimmtes Verhalten der
Betroffenen, gekoppelt:
vgl. Gesetzesbegründung, Bundestags-Drucksache 17/3404, S. 110, 112,
Vorbemerkung zu den §§ 31 bis 32.
Teile der Literatur sehen
darin gleichwohl „Grundrechtsausgestaltungen, die sich nicht
den Anforderungen an die Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs
stellen müssen.“ [Hervorh. d. Verf.],
so Burkiczak, Zwischenruf zu Nešković/Erdem, Zur Verfassungswidrigkeit
von Sanktionen bei Hartz IV, SGb 6/12, S. 324 ff., Nr.1 b.
Andere weisen hingegen auf
den Eingriffscharakter hin:
Nešković/Erdem, Für eine verfassungsrechtliche Diskussion über die
Menschenwürde von Hartz-IV-Betroffenen, in: SGb 2012, 326 ff. (326 f.).
Sanktionen können jedenfalls
„nur zulässig sein, wenn die Leistungsgewährung an bestimmte, über
die bloße aktuelle Hilfebedürftigkeit hinausgehende
Voraussetzungen geknüpft werden darf.“ [Hervorh. d. Verf.],
Lauterbach, ZFSH/SGB 2011, 584.
Doch
dies ist mit dem Bundesverfassungsgericht klar zu verneinen. Einzig
und allein der Bedarf ist der Maßstab, nach dem der Gesetzgeber den
Leistungsanspruch zu berechnen hat. Der Gesetzgeber darf den Umfang
des Existenzminimums nicht nach Gutdünken bestimmen, sondern hat nach
verfassungsgerichtlich überprüfbaren Kriterien eine
nachvollziehbare Bedarfsberechnung vorzunehmen.
Der
Leistungsanspruch
„hängt von den gesellschaftlichen Anschauungen über das für ein
menschenwürdiges Dasein Erforderliche, der konkreten
Lebenssituation des Hilfebedürftigen sowie den jeweiligen
wirtschaftlichen und technischen Gegebenheiten ab und ist danach
vom Gesetzgeber konkret zu bestimmen.“ [Hervorh. d. Verf.]
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 138.
Das Bundesverfassungsgericht
hat bereits in einer früheren Entscheidung in Bezug auf die Versagung
von Sozialhilfe aufgrund mangelnder Angaben des Leistungsberechtigte
zu seiner Notlage i. S. d. § 60 SGB I ausgeführt:
„Diese Pflicht [des Staates zur Sicherstellung eines menschenwürdigen
Lebens, d. Verf.] besteht unabhängig von den Gründen der
Hilfebedürftigkeit (vgl. BVerfGE 35, 202 <235>). Hieraus folgt,
dass bei der Prüfung der Voraussetzungen eines Anspruchs auf
Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums, soweit es um die
Beurteilung der Hilfebedürftigkeit der Antragsteller geht, nur auf die
gegenwärtige Lage abgestellt werden darf.“
In einem auf sein
Grundsatzurteil vom 9.2.2010 folgenden Beschluss betreffend die
Einkommensanrechnung, führt das Bundesverfassungsgericht aus, die
Verfassung gebiete nicht die Gewährung von
„bedarfsunabhängigen, voraussetzungslosen Sozialleistungen. Der
Gesetzgeber hat vielmehr einen weiten Spielraum, wenn er Regelungen
darüber trifft, ob und in welchem Umfang bei der Gewährung von
Sozialleistungen, die an die Bedürftigkeit des Empfängers anknüpfen,
sonstiges Einkommen des Empfängers auf den individuellen Bedarf
angerechnet wird“ (vgl. BVerfGE 100, 195 <205>).“ [Hervorh. d. Verf.].
BVerfG, 1 BvR 2556/09 vom 7.7.2010, Rn. 13.
Damit lässt es gerade nicht die Kopplung des Leistungsanspruchs an
irgendeine beliebige Voraussetzung zu. Im Gegenteil geht das
Bundesverfassungsgericht weiterhin von einem unmittelbaren
Zusammenhang zwischen dem tatsächlichen Bedarf des Betroffenen und der
Leistungserbringung aus: Voraussetzung für die Leistungsgewährung ist
die gegenwärtige Bedürftigkeit. Der Gestaltungsspielraum des
Gesetzgebers umfasst nicht die Anknüpfung an willkürliche
Tatbestandsvoraussetzungen, sondern lediglich „die Beurteilung der
tatsächlichen Verhältnisse ebenso wie die wertende Einschätzung
des notwendigen Bedarfs“ [Hervorh. d. Verf.].
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 138.
Durch eine Leistungskürzung wird im Ergebnis ein verminderter Bedarf
zuerkannt. Doch durch das die Sanktionen auslösende Verhalten ist
der Hilfebedürftige nicht mit einem Mal weniger bedürftig. Die
Mittel, die er für die physischen Existenz und zu einem Mindestmaß an
sozialer Teilhabe benötigt, bleiben die gleichen, die er vor
dem vorgeworfenen Verhalten benötigt hat.
Vgl. Nešković/Erdem, Für eine verfassungsrechtliche Diskussion über
die Menschenwürde von Hartz-IV-Betroffenen, in: SGb 2012, 326 ff.
(327).
Wird eine mangelhafte
und/oder mangelnde Berechnung des existenznotwendigen Bedarfs
vorgenommen, ist das Grundrecht in einer (unzulässigen) Weise bestimmt
worden, welche selbst gegen das Grundrecht verstößt:
vgl. BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 144.
Das Bundesverfassungsgericht
hat hinsichtlich der mangelhaften Berechnung der alten
Hartz-IV-Regelleistungen ausgeführt:
„Schätzungen ‚ins Blaue hinein` laufen [...] einem Verfahren
realitätsgerechter Ermittlung zuwider und verstoßen deshalb gegen Art.
1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs.
1 GG.“
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 171.
Wenn bereits
Gesetzesvorschriften, die auf einer nicht nachvollziehbaren Berechnung
(aber immerhin auf einer Bedarfsschätzung) beruhen, gegen das
Grundrecht auf Sicherung eines Existenzminimums verstoßen, muss dies
erst recht für Normen gelten, die die Höhe der Leistung
überhaupt nicht an den Bedarf, sondern an ein Verhalten des
Bedürftigen koppeln.
Vgl. Nešković/Erdem, Zur Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei
Hartz IV - Zugleich eine Kritik am Bundesverfassungsgericht, SGb 2012,
136 ff. (139).
Unabhängig davon, ob der
Gesetzgeber die Leistungsgrenzen unter Umständen noch enger ziehen
oder Leistungen für soziale Teilhabe komplett aberkennen dürfte,
so offenbar Burkiczak - BeckOK, SGB II § 31a Rn. 12 f. und Davilla,
SGb 2010, 557, 558 f.,
könnten negative
Abweichungen vom (einfach-)gesetzlich zuerkannten Leistungsanspruch
überhaupt nur dann verfassungsgemäß sein, wenn sie ihrerseits den
Umfang des Grundrechts in zulässiger Weise ausgestalten.
Dies
ist der Fall, wenn sie selbst ein bedarfsberechnendes
Parlamentsgesetz darstellen.
Vgl. Nešković/Erdem, Zur Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei
Hartz IV, SGb 2012, 136 ff. (139).
Es ist deswegen auch nur
unter ganz bestimmten Bedingungen möglich, für verschiedene
Personengruppen unterschiedliche Leistungsumfänge zur Deckung des
Existenzminimums zu definieren:
„Werden hinsichtlich bestimmter Personengruppen unterschiedliche
Methoden zugrunde gelegt, muss dies allerdings sachlich zu
rechtfertigen sein. (...) Eine Differenzierung ist nur möglich, sofern
deren Bedarf an existenznotwendigen Leistungen von dem anderer
Bedürftiger signifikant abweicht und dies folgerichtig in einem
inhaltlich transparenten Verfahren anhand des tatsächlichen Bedarfs
gerade dieser Gruppe belegt werden kann.“ [Hervorh. d. Verf.]
BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 97, 99.
Diese Voraussetzung ist bei der Gruppe der von Leistungskürzungen
Betroffenen nicht erfüllt. Aus diesem Grund ist eine gleiche
Ausgestaltung des Leistungsanspruchs geboten.
Schon gar nicht erfolgt eine abweichende Ausgestaltung des Grundrechts
durch eine im Einzelfall vorgenommene Sachleistungsvergabe nach § 31a
Abs. 3 SGB II.
Zum
einen stellt die „Berechnung zur Höhe ergänzender Sachleistungen“ in
den Hinweisen der Bundesagentur für Arbeit, die durch Addition der
Bedarfe für „Ernährung und Körperpflege“ zu einer
„Gesamtgutscheinhöhe“ von 176 Euro (ca. 46 % des Regelbedarfs)
gelangt,
vgl. BA-Hinweise zu §§ 31 ff. SGB II, Anlage 3 und Anlage 4,
nicht einmal irgendeine (schon gar keine nachvollziehbare)
Bedarfsberechnung durch Parlamentsgesetz dar. Zum
anderen darf es augenscheinlich nicht der Verwaltung obliegen, im
einzelnen Sanktionsfall den konkreten Umfang der Leistungen und damit
den Inhalt des Grundrechts auf Zusicherung eines
menschenwürdigen Existenzminimums nach mehr oder weniger freiem
Ermessen einzuschätzen.
Der
Umfang des menschenwürdigen Existenzminimums wird im Falle einer durch
einen Hilfebedürftigen begangenen „Pflichtverletzung“ demnach nicht
hinreichend bestimmt bzw. ohne sachlichen, bedarfsabhängigen Grund
niedriger beziffert. Dabei ist es die aus dem Grundrecht entspringende
Pflicht des Gesetzgebers, den Leistungsanspruch durch ein
Parlamentsgesetz
„in einem transparenten und sachgerechten Verfahren
realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage
verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu
bemessen“,
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Leitsatz 3.
ff) Sanktionen als unzulässiger Eingriff
Bei
den Sanktionsnormen handelt es sich auch nicht um einen zulässigen
Eingriff in das Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1
GG. Denn es ist von Verfassung wegen verwehrt, existenzsichernde
Leistungen – von denen nach der Entscheidung des BVerfG vom 9.2.2010
und angesichts eines anhängigen Vorlageverfahrens (SG Berlin, S 55 AS
9238/12) nicht einmal als gewiss gelten kann, dass sie das
Existenzminimum überhaupt decken,
vgl. dazu Münder, Verfassungsrechtliche Bewertung des Gesetzes zur
Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften
Buches Sozialgesetzbuch vom 24.3.2011 – BGBl. I S. 453, in: Soziale
Sicherheit, Zeitschrift für Arbeit und Soziales der
Hans-Böckler-Stiftung, Sonderheft, September 2011
–
trotz nachgewiesener Bedürftigkeit durch die Verwaltung im Einzelfall
zu kürzen. Im Gegenteil verlangt Art. 1 Abs. 1 GG, der
„die Menschenwürde jedes einzelnen Individuums ohne Ausnahme
schützt, dass das Existenzminimum in jedem Einzelfall
sichergestellt wird.“ [Hervorh. d. Verf.]
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 205.
Das
Gewährleistungsrecht des Einzelnen ergibt sich nach Auffassung des
Bundesverfassungsgerichts unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 GG:
„Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen
Existenzminimums ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit
Art. 20 Abs. 1 GG. (...) Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch.“
[Hervorh. d. Verf.]
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 133.
„Dieser objektiven Verpflichtung aus Art. 1 Abs. 1 GG
korrespondiert ein Leistungsanspruch des Grundrechtsträgers, da das
Grundrecht die Würde jedes individuellen Menschen schützt (vgl.
BVerfGE 87, 209 <228>) und sie in solchen Notlagen nur durch
materielle Unterstützung gesichert werden kann.“ [Hervorh. d. Verf.]
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 134.
„Die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums muss durch
einen gesetzlichen Anspruch gesichert sein. Dies verlangt
bereits unmittelbar der Schutzgehalt des Art. 1 Abs. 1 GG.“ [Hervorh.
d. Verf.]
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 136.
„Der Leistungsanspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG ist dem Grunde nach
von der Verfassung vorgegeben.“ [Hervorh. d. Verf.]
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 138.
Bei
der Menschenwürde ist jedoch jeder Eingriff ein ungerechtfertigter, d.
h. zugleich ihre Verletzung. Für eine zulässige Einschränkung des
Grundrechts ist demnach kein Raum.
Vgl. nur BVerfG vom 3.6.1987 – 1 BvR 313/85, BVerfGE 75, 369, 380;
Hillgruber, BeckOK, GG Art. 1 Rn. 11; Nešković/Erdem, Zur
Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei Hartz IV, SGb 2012, 136 ff.
(140) m. w. N.
Die für die Bundesrepublik
Deutschland schlechthin konstituierende unantastbare Menschenwürde des
Art. 1 Abs. 1 GG ist einem gerechtfertigten Eingriff unzugänglich. Ein
Sanktionsregime, das die „Verweigerung des Überlebensnotwendigen, sei
es auch nur vorübergehend, vorsieht, ist deshalb verfassungswidrig“.
Schnath, NZS 2010, 297, 301.
Das
(einmal durch den Gesetzgeber ausgestaltete) Grundrecht aus Art. 1
Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG ist „unverfügbar“.
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 133.
Legt der Gesetzgeber in
Erfüllung seiner grundrechtlichen Verpflichtung zur Gewährleistung
eines menschenwürdigen Existenzminimums eine bestimmte Höhe des
Existenzminimums fest, dann nimmt er damit eine
Konkretisierung/Inhaltsbestimmung des Grundrechts vor, an der sich
Kürzungen im Einzelfall messen lassen müssen.
Vgl. Nešković/Erdem, Zur Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei
Hartz IV, SGb 2012, 136 ff. (140); dieselben, Für eine
verfassungsrechtliche Diskussion über die Menschenwürde von
Hartz-IV-Betroffenen, in: SGb 2012, 326 ff. (327).
Das so berechnete „Minimum
für die Existenz“ bezeichnet „bereits denklogisch einen nicht
unterschreitbaren Kern. Der gesamte Leistungsumfang des
Existenzminimums muss somit zugleich sein Mindestinhalt sein“, der „in
jedem Fall und zu jeder Zeit“ gewährleistet sein muss.“
Landessozialgericht NRW, L 20 AY 153/12 B ER vom 24.4.2013, Rn. 55 m.
w. N.
Jegliche Be- und Einschränkung dieses Anspruchs – aus welchen Gründen
auch immer – bedeutet unweigerlich eine Einschränkung des
Leistungsrechts und verletzt das Grundrecht auf Gewährleistung eines
menschenwürdigen Existenzminimums. Dies gilt insbesondere für eine
bedarfsunabhängige Verminderung des Anspruchs.
Sanktionen gemäß §§ 31a, 32 SGB II führen dazu, dass das vom
Gesetzgeber festgelegte Existenzminimum für den Zeitraum
der Sanktion unterschritten wird. Hierbei wird zum einen vollkommen
vom Bedarf abstrahiert und zum anderen die Vorgabe des
Bundesverfassungsgerichts unterlaufen, nach der „Art. 1 Abs. 1 GG in
Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG verlangt, dass das Existenzminimum
in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein muss“ [Hervorh.
d. Verf.],
BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 120,
und
„zu jeder Zeit die Erfüllung des aktuellen Bedarfs sicherzustellen“
ist,
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 140.
Jede
Unterschreitung dieses unverfügbaren Anspruchsinhalts stellt
eine Verletzung des Grundrechts auf Gewährleistung eines
menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20
Abs. 1 GG dar.
Es
kann für Eingriffe in das Grundrecht schlechthin keine Rechtfertigung
geben. Dabei kann es dahinstehen, welche beispielsweise
haushälterischen Auswirkungen die Gewährleistung des menschenwürdigen
Existenzminimums staatlicherseits hat. Der Staat hat die
Verpflichtung, seine aus der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip
erwachsenden Aufgaben zu erfüllen und die entsprechenden Mittel zur
Verfügung zu stellen,
vgl. Bryde, Steuerverweigerung und Sozialstaat, in: Aschke/Hase/Schmidt-De/Caluwe
(Hg.), Selbstbestimmung und Gemeinwohl, Festschrift für Friedrich von
Zezschwitz zum 70. Geburtstag, 2005, S. 326 ff.; Nešković/Erdem, Zur
Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei Hartz IV, SGb 2012, 140.
gg) Evidente Bedarfsunterschreitung
Darüber hinaus liegt jedenfalls bei allen Sanktionen von über 30 % der
Regelleistung zusätzlich ein Verstoß gegen das Grundrecht aus Art. 1
Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG aufgrund einer evidenten
Unterschreitung des zum Leben Notwendigen vor.
Hat
der Gesetzgeber nämlich erst einmal Leistungen zur Deckung des
Existenzminimums festgelegt, so muss er sich daran messen lassen. Der
durch den Gesetzgeber zuerkannte Leistungsanspruch ist nunmehr
unmittelbar verfassungsrechtlich geschützt. Nach einer
Inhaltsbestimmung erstreckt sich der verfassungsrechtliche Schutz und
damit die (Evidenz-) Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts auf den
inhaltlich konkretisierten Umfang des Grundrechts.
Vgl. Nešković/Erdem, Für eine verfassungsrechtliche Diskussion über
die Menschenwürde von Hartz-IV-Betroffenen, in: SGb 2012, 326 ff.
(329).
Entsprechend hat das Bundesverfassungsgericht bei seiner Entscheidung
über die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz die
Leistungen nach dem SGB II als Maßstab für seine Evidenzkontrolle
herangezogen und für seine Übergangsregelung auf das
Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz zurückgegriffen:
vgl. BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 107 ff., 126 ff.
Dabei hat es ausgeführt:
„Die Normen des Regelbedarfs-Ermittlungsgesetzes sind ausweislich der
Stellungnahme der Bundesregierung in diesem Verfahren die einzig
verfügbare, durch den Gesetzgeber vorgenommene und angesichts seines
Gestaltungsspielraums wertende Bestimmung der Höhe von Leistungen zur
Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums.“ [Hervorh.
d. Verf.]
BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 126.
Unter diesem Maßstab führt bereits eine erhebliche Abweichung
vom dem festgelegten Regelsatz zu der Annahme einer evidenten
Unterschreitung des Existenzminimums, ohne dass es auf die Deckung des
zum physischen Überleben Notwendigen noch ankäme.
So
offenbart nach dem Bundesverfassungsgericht
„ein erheblicher Abstand von einem Drittel zu Leistungen nach dem
Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch, deren Höhe erst in
jüngster Zeit zur Sicherung des Existenzminimums bestimmt wurde [...],
ein Defizit in der Sicherung der menschenwürdigen Existenz.“ [Hervorh.
d. Verf.]
BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 112.
Bereits die erste in § 31a Abs. 1 S. 1 SGB II festgelegte
Sanktionsstufe, bei der durch die Verwaltung unter keinen Umständen
ein Ausgleich durch Sachleistungen vorgenommen werden kann, beträgt 30
%. Schon in dieser Unterschreitung um nahezu ein Drittel der
Regelleistung liegt eine evidente Unterschreitung, erst recht bei
allen höheren Sanktionsstufen.
Zwar
ist bei Sanktionen ab 40 % gemäß § 31 Abs. 3 S. 1 SGB II die Gewährung
von Sachleistungen und geldwerten Leistungen als
Kompensationsmöglichkeit vorgesehen. Eine solche Kompensation wird
jedoch nur bis zu einer Grenze von aktuell 172 Euro gewährt,
vgl. BA-Hinweise zu §§ 31 ff. SGB II, Anlage 3 und Anlage 4.
Dies
entspricht nicht einmal 50 % des Regelbedarfs nach § 20 SGB II.
Eine
Sachleistungsvergabe kann höchstens zur relativen Abmilderung der (von
Grund auf verfassungswidrigen) Folgen einer Leistungskürzung führen,
den Verfassungsverstoß selbst jedoch nicht beseitigen.
Darüber hinaus ist die Gewährleistung von Sachleistungen von der
Antragstellung durch den Betroffenen abhängig. Das bedeutet, es
braucht ein aktives Verhalten des Bedürftigen als Zwischenschritt,
um überhaupt eine Kompensationsmöglichkeit zu erreichen. Selbst dann
liegt die Entscheidung über die Bewilligung nach § 31a Abs. 1 S. 1 SGB II
noch im Ermessen der Verwaltungsbehörde.
Zur Unmöglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung s. unter
3.
Das
Bundesverfassungsgericht fordert jedoch eine Festsetzung der
Bedarfshöhe durch ein Parlamentsgesetz:
vgl. BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 136.
Abgesehen davon, dass es nicht nachvollziehbar ist, wieso von Gesetzes
wegen die Kompensation der Leistungskürzung durch Sachleistungen erst
bei Sanktionen über 30 % in Betracht kommt, entspricht es auch nicht
dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitserfordernis, über die
Gewährleistung der Sachleistungen und damit über die erheblichen,
strafähnlichen Folgen einer Sanktion einzelne Verwaltungsbehörden
ins Blaue hinein entscheiden zu lassen.
Solches Verwaltungshandeln ist jedenfalls nicht geeignet, den von
Verfassung wegen gebotenen Leistungsanspruch in jedem Einzelfall
sicherzustellen und damit eine evidente Unterschreitung des
Existenzminimums abzuwehren.
Zur Unmöglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung s. unter 3.
hh) Keine Selbsthilfeobliegenheit zum Erwerb des Existenzminimums
Der
Unverletzlichkeit des Grundrechts auf Gewährleistung eines
menschenwürdigen Existenzminimums steht auch nicht entgegen, dass die
Sanktionsreglungen der §§ 31a, 32 SGB II dem sozialpolitischen
Selbsthilfegrundsatz entsprechen. Nach diesem Prinzip sollen
erwerbsfähige Menschen ihrerseits alle Mittel ausschöpfen und
Maßnahmen ergreifen, um ihre Hilfebedürftigkeit zu beenden und
letztlich dem (Erwerbs-)Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen zu können.
Der
Gesetzgeber hat die Einfügung der Sanktionsnormen in das SGB II mit
diesem Grundsatz begründet:
„Das Prinzip des Fördern und Forderns besagt, dass eine Person, die
mit dem Geld der Steuerzahler in einer Notsituation unterstützt wird,
mithelfen muss, ihre Situation zu verbessern. Eine Person, die
hilfebedürftig ist, weil sie keine Arbeit findet, kann mit der
Unterstützung der Gemeinschaft rechnen. Im Gegenzug muss sie alles
unternehmen, um ihren Lebensunterhalt wieder selbst zu verdienen.“
Bundestags-Drucksache 17/3404, S. 110.
Die
sozialpolitische Entscheidung des Gesetzgebers, sein
gesetzgeberisches Handeln an diesem Prinzip zu orientieren, ist
verfassungsrechtlich nicht geboten. Es findet seinen Niederschlag
lediglich in einfachgesetzlichen Regelungen. Solche müssen im
Kollisionsfall mit verfassungsrechtlichen Vorgaben zurückstehen. Das
gilt in besonderem Maße bei einer Kollision mit dem nicht
beschränkbaren Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen
Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG.
Das
Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich ein Menschenrecht
konkretisiert:
BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 88.
Die
Erfüllung eines Menschenrechts darf nicht von Bedingungen abhängen.
Denn die Menschenwürdegarantie gilt absolut. Das
Bundesverfassungsgericht weist ausdrücklich darauf hin:
„Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist
migrationspolitisch nicht zu relativieren.“
BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 121.
Die
Menschenwürde kann auch arbeitsmarktpolitisch oder fiskalpolitisch
nicht relativierbar sein.
Vgl. Nešković/Erdem, Zu den Auswirkungen der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts zum Asylbewerberleistungsgesetz auf die
verfassungsrechtliche Beurteilung von Sanktionen bei Hartz IV,
30.7.2012,
http://www.wirtschaftundgesellschaft.de/2012/07/menschenrecht-auf-existenz-ein-gastbeitrag-von-wolfgang-neskovic-und-isabel-erdem/
(abgerufen am 12.7.2013)
Im
Hinblick auf die Unantastbarkeit der Menschenwürde „darf ihre
Beeinträchtigung nicht als Druckmittel eingesetzt werden.“
[Hervorh. d. Verf.]
SG Altenburg, S 21 AY 3362/12 ER vom 11.10.2012; ähnlich SG
Düsseldorf, S 17 AY 81/12 ER vom 19.11.2012, Rn. 11.
Das
Bundesverfassungsgericht hat bereits 2005 entschieden, dass die
Pflicht zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens „unabhängig
von den Gründen der Hilfebedürftigkeit“ besteht.
BVerfG, 1 BvR 569/05 vom 12.5.2005, Rn 28.
Aus
alledem folgt zwingend, dass selbst bewusste
Zuwiderhandlungen von Leistungsberechtigte gegen den
Selbsthilfegrundsatz insoweit hingenommen werden müssen, als es um den
Kernbereich der menschenwürdigen Existenz, d. h. Leistungen zur
Deckung des menschenwürdigen Existenzminimums geht. Dem Gesetzgeber
bliebe es unbenommen, in anderen Bereichen der (Sozial-)Leistungsvergabe
das „Solidarprinzip“ zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft
mittels Selbsthilfeobliegenheiten durchzusetzen. Doch im Bereich
des unverfügbaren Existenzminimums kann es keine Obliegenheit des
Grundrechtsträgers geben, sich durch sein Verhalten den Anspruch auf
die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums erst zu
erwerben.
Die
hiergegen teilweise angeführten Warnungen vor einer „allgemeinen
Mindestsicherung“ und das Argument der Unfinanzierbarkeit
vorbehaltloser Sozialleistungen, indem eine Kollision mit dem
Lebensstandard der übrigen Bevölkerung und demnach der „Rückgriff auf
das Existenzminimum der dann noch verbliebenen Steuerzahler“ drohe,
s. stellvertretend BSG-Urteil vom 22.4.2008 – B 1 KR 10/07, juris Rn.
31,
ist
angesichts des vorhandenen Reichtums in unserer Gesellschaft
realitätsfern und läuft zudem auf eine unzulässige Abwägung
„Menschenwürde gegen Menschenwürde“ hinaus.
Vgl. Nešković/Erdem, Zur Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei
Hartz IV, SGb 2012, S. 134 ff. (140).
Neben der Unverfügbarkeit des Existenzminimums wird bei dieser
Argumentation häufig die gesellschaftliche Realität verkannt.
Es
liegen bisher keine Zahlen darüber vor, inwieweit die in § 31 SGB II
kodifizierten Pflichten Hilfebedürftige in Erwerbsarbeit befördern,
also zur Erleichterung des Sozialsystems überhaupt geeignet sind. Im
Gegenteil spricht einiges gegen diese Annahme: Oft werden
Leistungsberechtigten befristete oder gering bezahlte Tätigkeiten oder
teure Fortbildungsmaßnahmen zugewiesen, deren Erfolge zur Integration
in den ersten Arbeitsmarkt als gering eingeschätzt werden. Die damit
verbundenen Zahlungen an die Träger solcher Maßnahmen belasten den
Steuerzahler erheblich:
vgl. z. B. Bericht des WDR „Sinnlos zur Weiterbildung verdonnert“, vom
31.1.2013:
http://www1.wdr.de/themen/wirtschaft/hartzvier112.html
(abgerufen am 12.7.2013)
Unter den gegenwärtigen Bedingungen sind auf dem ersten Arbeitsmarkt
schlicht nicht genug akzeptabel bezahlte Arbeitsplätze vorhanden: Die
Zahl derer, die nicht oder unzureichend verdienen und so das
Sozialsystem belasten, übersteigt die Anzahl verfügbarer ausreichend
entlohnter Arbeitsstellen um ein Vielfaches:
vgl. nur Statistik der BA:
http://www.sozialpolitik-aktuell.de/tl_files/sozialpolitik-aktuell/_Politikfelder/Arbeitsmarkt/Datensammlung/PDF-Dateien/abbIV32.pdf
(abgerufen am 12.7.2013)
Dieses Missverhältnis führt zwangsläufig dazu, dass die jeweils
Erwerbstätigen durch ihre Einzahlung in die Sozialsysteme das
Überleben einer gewissen Zahl nicht einzahlender Mitbürger
dauerhaft mit gewährleisten. Ob es sich dabei um Personen handelt,
die vorübergehend oder auf längere Zeit keinen Zugang zum Arbeitsmarkt
finden oder ob es sich um Personen handelt, die aufgrund wenig
aussichtsreicher Perspektiven (Alter, Behinderung, Betreuungsaufgaben
oder Ausbildungsdefizite) oder aufgrund mangelnder Bereitschaft zur
Teilnahme an einer Maßnahme oder Aufnahme einer Arbeit oder wegen
unzureichender Eigenbemühungen dem Arbeitsmarkt entzogen sind, macht
vom Standpunkt der staatlichen Finanzierbarkeit keinen
Unterschied. Angesichts der sehr niedrigen Regelleistungen des SGB II
im Vergleich zum Durchschnittseinkommen der erwerbstätigen Bevölkerung
kann auch nicht angenommen werden, dass ohne Sanktionstatbestände ein
solcher Anstieg der Arbeitslosigkeit zu verzeichnen wäre, dass das
deutsche Sozialsystem notstandsähnlich gefährdet würde.
Die
Folgen von disziplinierenden Sanktionen können zudem durchaus
kostenintensiver für das Sozialsystem sein als ein unveränderter
Leistungsbezug eines Minimalbeitrags. Der durch die Sanktionsdrohung
erzeugte Druck führt zu einem Anstieg der psychischen und physischen
Krankheiten; durch Leistungskürzungen kommt es außerdem verstärkt zu
Mietschulden und sogar Räumungen von Hilfebedürftigen Mietern.
Sanktionierte sind zum Teil auf Suppenküchen oder
Obdachlosenunterkünfte angewiesen.
Vgl. zu den sozialen Auswirkungen von Sanktionen Grießmeier, Der
disziplinierende Staat, 2012, S. 48 ff.; Ames, Ursachen und
Auswirkungen von Sanktionen nach § 31 SGB II, 2009, S. 158.
Die
daraus resultierenden steigenden Gesundheits- und andere Kosten
belasten das Sozialsystem zusätzlich.
Soziale Hilfen komplett zu entsagen und Bedürftige gegebenenfalls
verhungern zu lassen, ist in einem Sozialstaat schlicht unzulässig und
verfassungswidrig. Dann muss es aber bereits denknotwendig eine
unterste Grenze staatlicher Leistungen geben, die jedem Menschen
„unabhängig von den Gründen der Hilfebedürftigkeit“,
zugestanden werden. Es muss sich um Leistungen handeln, die für seine
menschenwürdige Existenz unbedingt notwendig sind. Dies ist
eine sozialstaatliche Verpflichtung. Zur Erfüllung dieser Aufgabe hat
der Staat „nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, sich mit den
notwendigen Mitteln auszustatten.“
Bryde, Steuerverweigerung und Sozialstaat, in Aschke/Hase/Schmidt-De/
Caluwe (Hg.), Selbstbestimmung und Gemeinwohl, Festschrift für
Friedrich von Zezschwitz zum 70. Geburtstag, 2005, S. 326 ff.
Diese Wertentscheidung des Grundgesetzes ist unabänderlich, da sowohl
die Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG als auch das
Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG unter dem Schutz der
Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG stehen.
Soweit einfachgesetzliche Regelungen – aus welchen Gründen auch immer,
seien sie willkürlich, migrationspolitisch oder sozialpolitisch
intendiert – nicht nur zu einer verzögerten Auszahlung (z. B. wegen
verspäteter Antragstellung), sondern zu einer absoluten
Unterschreitung dieses Existenzminimums führen, sind sie daher
verfassungswidrig.
ii) Absehen von Verhältnismäßigkeitsprüfung
Die
Frage einer möglichen (Un-)Verhältnismäßigkeit der Leistungskürzungen
nach §§ 31 ff. SGB II, etwa durch den starren Absenkungsmechanismus
oder schärfere Sanktionen für Unter-25-Jährige, stellt sich damit gar
nicht mehr.
Zur Diskussion in der Literatur um die Verhältnismäßigkeit s.
Anhang.
jj) Zwischenergebnis:
Indem sie zu einer absoluten Unterschreitung unter das von Verfassung
wegen gebotene und durch einfachgesetzlichen Leistungsanspruch
konkretisierte menschenwürdige Existenzminimum führen, verletzen die
§ 31a i. V. m. § 31, 31 b das Grundrecht auf Gewährleistung eines
menschenwürdigen Existenzminimums.
b) Verstoß gegen Art. 12
Abs. 1 GG
§ 31a i. V. m. § 31 Abs. 1 Nr. 2 und § 31b SGB II verstoßen darüber
hinaus gegen die Berufsfreiheit gemäß Art. 12 Abs. 1 GG.
aa) Eingriff in den Schutzbereich
Art.
12 Abs. 1 GG konkretisiert das Grundrecht auf freie Entfaltung der
Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 GG und zielt auf eine möglichst
freie und unreglementierte berufliche Betätigung.
Vgl. BVerfGE 103, 172 (183).
Art.
12 Abs. 1 GG umfasst dabei sowohl die Berufswahl- und
Berufsausübungsfreiheit als auch die freie Wahl des Arbeitsplatzes.
Dabei ist auch die negative Berufsfreiheit vom Schutzbereich des Art.
12 Abs. 1 GG umfasst. Das bedeutet, es steht jedem Grundrechtsträger
frei, eine bestimmte Arbeit nicht zu ergreifen. Es liegt in der
Entscheidungsgewalt des Einzelnen, für sich zu entscheiden, einer
bestimmten beruflichen Tätigkeit nicht nachzugehen. Das
Bundesverfassungsgericht bezeichnet dies als
„die notwendige Kehrseite der positiven Freiheitverbürgung, bezogen
auf das Ziel, einen Lebensbereich von staatlichen Eingriffen und
Manipulation freizuhalten“.
BVerfGE 58, 358 (364).
§ 31
Abs. 1 Nr. 2 SGB II normiert als Pflichtverletzung, wenn eine i. S. d.
SGB II zumutbare Arbeit, Ausbildung, Arbeitsgelegenheit gemäß § 16 d
SGB II oder ein gemäß § 16 e SGB II gefördertes Arbeitsverhältnis
nicht aufgenommen, nicht fortgeführt oder deren Anbahnung verhindert
wird. Diese Pflichtverletzung führt zur Sanktionierung des
Leistungsempfängers.
Die
Sanktionierung, die zur – ihrerseits selbstständig verfassungswidrigen
– Kürzung des menschenwürdigen Existenzminimums führt, stellt für den
Leistungsberechtigten einen erheblichen Einschnitt dar.
Die
Drohwirkung, die eine Sanktionierungsmöglichkeit nach §§ 31 ff. SGB II
entfaltet, ist geeignet, den freien und selbstbestimmten
Entscheidungsprozess zu beeinträchtigen. Es ist naheliegend und vom
Gesetzgeber gerade beabsichtigt, dass der Leistungsempfänger
eine Beschneidung seiner Mittel vermeiden will. Das führt dazu, dass
er de facto genötigt wird, jede i. S. d. Gesetzes zumutbare
Arbeit, Ausbildung, Arbeitsgelegenheit gemäß § 16 d SGB II oder ein
gemäß § 16 e SGB II gefördertes Arbeitsverhältnis aufzunehmen,
unabhängig davon, ob dies seinem Willen oder seinem Verständnis von
guter bzw. akzeptabler Arbeit entspricht.
Die
Sanktionsandrohung übt auf den Leistungsberechtigten einen faktischen
Zwang aus, der einer imperativen Verpflichtung zur Aufnahme
einer nicht gewollten Tätigkeit gleichkommt. Besonders augenscheinlich
wird dieser Zwang im Fall einer 100 % Sanktion, wenn eine i. S. d. SGB II
zumutbare Beschäftigungsmöglichkeit nicht genutzt wird.
Diese Folgen des § 31a i. V. m. § 31 Abs. 1 Nr. 2 SGB II greifen ganz
erheblich in die negative Berufsfreiheit gemäß Art. 12 Abs. 1 GG ein.
Ähnlich Berlit, Handbuch Existenzsicherungsrecht, 2013, Kapitel 23
(Sanktionen), Rn. 15 f.
bb) Keine verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Der
mittelbare Arbeitszwang ist auch nicht gerechtfertigt.
Ziel
der verhängten Sanktion ist die Arbeitsmarktannäherung des Pflichten
verletzenden Leistungsempfängers. Hierfür sind die Sanktionsnormen
schon nicht geeignet.
Die
Verhängung von Sanktionen erweist sich im Gegenteil für das Ziel der
Arbeitsmarktannäherung als kontraproduktiv und eher
erschwerend, denn fördernd:
vgl. Ames, Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen nach § 31 SGB II,
2009, S. 162 f., 168; Grießmeier, Der disziplinierende Staat, 2012, S.
43; Berlit, in: Münder, LPK-SGB II, § 31a, Rn. 7; derselbe, Minderung
der verfügbaren Mittel – Sanktionen und Aufrechnung im SGB II, ZFSH/SGB
2012, 567.
Schon gar nicht lassen sich Sanktionen gemäß §§ 31a i. V. m. § 31 Abs.
1 Nr. 2 und § 31b SGB II als mildestes Mittel und somit erforderlich
qualifizieren.
Um
die Erreichung des einfachgesetzlichen Ziels der
Arbeitsmarktannäherung sicherzustellen, käme es naheliegender Weise in
Betracht, den Betreffenden durch individuell abgestimmte
Unterstützungsangebote wie zusätzliche Beratungen und freiwillige
Weiterbildungsmaßnahmen zu fördern und bei der Arbeitssuche behilflich
zu sein.
Auch
entsprechen die Sanktionsregelungen der §§ 31 ff. SGB II nicht dem
mildesten Mittel, da keine Notwendigkeit bestünde, Sanktionen strikt
über drei Monate zu verhängen. Die Sanktionsfrist, die § 31b Abs. 1 S.
3 SGB II etabliert, wird selbst dann nicht verkürzt, wenn die
pflichtverletzende Handlung unmittelbar nachgeholt wird.
Vgl. dazu Däubler, info also 2/2005, S. 51 ff. (53).
Für
eine fördernde Wirkung sind die Regelungen zu Zeitdauer und Umfang der
Leistungsminderung in jedem Fall zu unflexibel.
Vgl. hierzu: Berlit, in: Münder, LPK-SGB II, § 31a, Rn. 5.; Loose,
Sanktionierung von Pflicht und Obliegenheitsverletzungen im Bereich
der Grundsicherung für Arbeitsuchende, ZFSH/SGB 2010, S. 345; Däubler,
info also 2/2005, S. 51 ff. (53).
Indem sie durch ein Anknüpfen an Unterlassenstatbestände und eine
Addition und Aufeinanderfolge von Einzelsanktionen als Rechtsfolge
eine einmalige oder auch unbegrenzte Sanktionsmöglichkeit
eröffnen, genügen die Sanktionsregelungen außerdem nicht den
Bestimmtheitsanforderungen. Denn die dauerhafte Nichtvornahme der
Mitwirkung, d. h. ein und dasselbe Verhalten einer Person (z. B.
anhaltende Unerreichbarkeit oder Arbeitsverweigerung) kann als
beliebig viele „Pflichtverletzungen“ im Sinne des § 31 SGB II zählen
und damit sanktionsauslösend sein. Denn eine „Pflichtverletzung“
stellt juristisch reines Unterlassen dar. Die Pflichten sind jedoch
allgemein formuliert, die konkreten Verhaltensanforderungen ergeben
sich nicht aus dem Gesetz selbst. So liegt ein sanktionsbewehrtes
Unterlassen nicht etwa objektiv zu einem gesetzlich bestimmten
Pflichterfüllungszeitpunkt vor. Welche Pflicht konkret besteht und in
welchem Maße eine Sanktionierung erfolgt, hängt vielmehr einzig und
allein von der Art und der Anzahl der Aufforderungen ab, die der
jeweilige persönliche Sachbearbeiter an den Bedürftigen richtet. Bei
besonders „motivierten“ Sachbearbeitern werden in gleichem Zeitraum
mehr und andere „Pflichten“ bestehen und daher Pflichtverletzungen zu
verzeichnen sein. Ein fortgesetztes Unterlassen kann eine Zeit lang
(z. B. bei „großzügigen“ Eingliederungsvereinbarungen) pflichtgemäß
sein, mit der Folge, dass der Bedürftige unverändert im vollen
Leistungsbezug steht. Wenn aber im selben Zeitraum eine Aufforderung
oder ein Arbeitsangebot ergeht, wird dasselbe Verhalten als einmalige
Pflichtverletzung gewertet. Das reine Unterlassen kann einige wenige
Sanktionen auslösen, es kann aber ebenso gut jahrelange
Vollsanktionierung nach sich ziehen. Dies liegt nicht an einer
abweichenden Überprüfung von objektivem Fehlverhalten; bereits der
tatbestandliche Umfang der Pflichtigkeit, der die Grundlage eines
Fehlverhaltens durch Unterlassen bildet, bedarf erst einer
Konkretisierung durch die Verwaltung. Im Vorhinein steht für den
Leistungsberechtigten somit gesetzlich nicht fest, welche konkreten
Auswirkungen sein Verhalten nach sich zieht.
Dass
darin ein Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot zu erblicken ist, liegt
auf der Hand. Dabei sind gerade bei den Sanktionsnormen der §§ 31 ff.
SGB II, die ein erhebliches Drohpotenzial entfalten und insoweit
Strafcharakter haben, die Anforderungen an die Bestimmtheit besonders
hoch.
Schließlich wären die §§ 31 ff. SGB II – selbst bei unterstellter
Geeignetheit und Erforderlichkeit – auch unangemessen. Die
Konsequenzen der Sanktionen stehen völlig außer Verhältnis zum
verfolgten Ziel.
100-%-Sanktionen ohne Sachleistungskompensation gemäß §§ 31 ff. SGB II
können dazu führen, dass Beitragserstattungen für den Kranken- und
Pflegeversicherungsschutz entfallen. Gleichzeitig bleibt in diesen
Fällen zunächst die Krankenversicherungspflicht bestehen, so dass dem
Beitragspflichtigen zwangsläufig Schulden entstehen, da die Beiträge
nicht geleistet werden können. Werden die Beiträge über zwei Monate
nicht bezahlt, besteht nur noch ein Anspruch auf die „Notversorgung“
gem. § 16 Abs. 3a S. 2 1.HS SGB V.
In
der Vergangenheit führten Leistungskürzungen immer wieder zu
gesundheits-beeinträchtigenden, sogar lebensbedrohlichen Situationen
bei Sanktionierten.
Ein
depressiver 20-jähriger Sanktionierter starb an Unterversorgung der
Organe in seiner Wohnung. Die Mutter gab an, dass sie sich keine
Nahrungsmittel hätten kaufen können:
http://www.sueddeutsche.de/panorama/speyer-arbeitsloser-verhungert-in-seiner-wohnung-1.666139
(abgerufen am 12.7.2013)
http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/arbeitsloser-in-speyerverhungert/835784.html
(abgerufen am 12.7.2013)
Ein
Sanktionierter musste wegen Unterernährung in ein Krankenhaus
eingeliefert werden. Eine andere Sanktionierte habe sich aus Not an
Lebensmitteln prostituiert:
vgl. Grießmeier, Der disziplinierende Staat, 2012, S. 47 f.
Sanktionierung treibt nicht selten die Betroffenen in die Delinquenz
oder Depressionen:
vgl. Ames, Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen nach § 31 SGB II,
2009, S. 161 f.; Grießmeier, Der disziplinierende Staat, 2012, S. 48
ff. m. w. N.
Auch
hinsichtlich der Nicht-Übernahme der Kosten für die Unterkunft
bestehen erhebliche Probleme für die Betroffenen. Einige haben
aufgrund einer 100-%-Sanktionierung mit einer Räumungsklage zu
kämpfen:
vgl. Grießmeier, Der disziplinierende Staat, 2012, S. 51.
Bei
der Beantragung von Sachleistungen zur Kompensation sehen sich die
Betroffenen einer nicht vertretbaren Situation ausgesetzt. Die
Einlösung von Lebensmittelgutscheinen wird von den Betroffenen als
demütigend erlebt. Sie suchen sich Geschäfte, in denen sie die
kassierenden Personen nicht kennen, und wenig frequentierte Kassen.
Dass die Kassierer häufig nicht wissen, wie mit den
Lebensmittelgutscheinen umzugehen ist, wird als besonders
diskriminierend erlebt:
vgl. Ames, Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen nach § 31 SGB II,
2009, S. 157.
Die
psychischen Auswirkungen der Sanktionen sind massiv. Es kommt
u. a. zu Schlafstörungen und Depressionen. Bereits die bloße
Möglichkeit einer Sanktionierung belastet die Psyche stark:
vgl. Grießmeier, Der disziplinierende Staat, 2012, S. 48 f.
Oftmals wird auf die Situation der Sanktionierung dadurch reagiert,
dass Rechnungen nicht beglichen werden:
vgl. Ames, Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen nach § 31 SGB II,
2009, S. 159.
Die
Gefahr der Verschuldung ist hoch. Konsequenzen können dabei der
Verlust des Bankkontos, Sperrung des Telefons und der Verlust des
Wohnraums sein:
vgl. Grießmeier, Der disziplinierende Staat, 2012, S. 54 f.
Als
Strategien zur Erlangung von Bargeld werden beschrieben: Betteln,
Flaschensammeln, Hilfsarbeit an der Grenze zur Schwarzarbeit,
finanzielle Unterstützung durch Familie und Freunde, Delinquenz, Kauf
von billigen Wasserflaschen, um über das Pfand an Bargeld zu kommen:
vgl. Grießmeier, Der disziplinierende Staat, 2012, S. 54; Ames,
Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen nach § 31 SGB II, 2009, S.
158.
Die
Sanktionierung einer Person hat Auswirkungen auf die gesamte
Bedarfsgemeinschaft. Dies ist bei der Miete für die Wohnung
offenkundig, da der Mietanteil der sanktionierten Person wegfällt und
von den anderen kompensiert werden muss. Bei unter-25-jährigen
Leistungsberechtigten, die aufgrund des § 22 Abs. 5 SGB II in der
familiären Bedarfsgemeinschaft leben, verschärft sich diese Situation
noch. Die Konsequenzen bestehen regelmäßig darin, dass die anderen
Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft die sanktionierte Person mit ihren
eigenen Regelleistungen bei ihren sonstigen Kosten unterstützen, um
ihr Überleben und nicht zuletzt den gemeinsamen Wohnraum zu sichern.
Dass eine personenbezogene Maßregelung so von Gesetzes wegen
auf den Rest der Familie „abgewälzt“ wird, dürfte in vielen Fällen
auch einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 GG begründen.
Vgl. dazu Geiger, Wie sind die personenübergreifenden Sanktionsfolgen
auf der Grundlage der geltenden Fassung von § 31 SGB II zu
verhindern?, info also 1/2010, S. 1 ff.; Däubler, info also 2/2005, S.
51 ff. (53).
Das
Bemühen, noch weniger Geld auszugeben, hat zur Folge, dass die
Betroffenen sich stärker isolieren und ihren
Aktionsradius auf die eigene Wohnung fokussieren:
vgl. Ames, Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen nach § 31 SGB II,
2009, S. 160.
Da
die Datenlage höchst ungenügend ist, kann davon ausgegangen werden,
dass es sich bei den bisher gesammelten Fällen nur um einen geringen
Teil der tatsächlich vorliegenden ähnlichen Vorkommnisse, sozusagen um
die „Spitze des Eisbergs“ handelt.
Vgl. Grießmeier, Der disziplinierende Staat, 2012, S. 34 ff.
Die
Folgen, die eine Sanktionierung mit sich bringen kann, sind jedenfalls
massiv und betreffen existentielle Bereiche menschlichen (Über-)Lebens
wie die Versorgung mit Lebensmitteln, die ärztliche Versorgung oder
Existenz von Wohnraum. Die Betroffenen werden durch die Sanktionen
gezwungen, sich sozial zu isolieren, ungesund zu ernähren und sind
durch die Unterschreitung des Existenzminimums in ihrem physischen und
psychischen Wohlbefinden derart eingeschränkt, dass ihre
körperliche Unversehrtheit nicht mehr gewährleistet ist. Diese
unverhältnismäßigen Folgen werden durch Sanktionen zumindest in Kauf
genommen.
Nicht zuletzt handelt es sich um ein widersprüchliches Verhalten des
Gesetzgebers zur vermeintlichen Erreichung eines einfachgesetzlichen
sozialpolitischen Ziels („Fördern und Fordern“). Staatliches Handeln –
in Form von Leistungskürzungen nach §§ 31 ff. SGB II – führt dazu,
dass im Einzelfall nicht mehr kontrollierbare Zustände wie Krankheit,
Hunger, Wohnungslosigkeit, Delinquenz herbeigeführt werden, für die am
Ende zwangsläufig der öffentliche Haushalt einspringen muss. Die
Übernahme von Mietschulden bei Hilfebedürftigen wird in § 22 Abs. 8
SGB II geregelt. Das bedeutet: Im Anschluss an eine auch die Kosten
der Unterkunft betreffenden Sanktion, muss der Staat für dieselben
Schulden zuzüglich angehäufter Zinsen, Mahngebühren und ggf.
Räumungskosten aufkommen, die er durch die Nichtauszahlung seiner
ALG-II-Leistung gerade hervorgerufen hat. Solche Sanktionen wären also
bereits mit Blick auf die öffentlichen Haushalte unbedingt zu
vermeiden.
cc) Zwischenergebnis:
Der
Eingriff in die Berufsfreiheit gemäß Art. 12 Abs. 1 GG ist daher nicht
gerechtfertigt. § 31a i. V. m. §§ 31 Abs. 1 Nr. 2, 31b SGB II verstößt
auch gegen Art. 12 Abs. 1 GG.
c)
Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG
Sanktionen nach § 31a i. V. m. § 31 und § 31b SGB II, verstoßen, wenn
sie zu einer Lebensgefährdung oder Beeinträchtigung der Gesundheit der
Sanktionierten führen, darüber hinaus gegen das Recht auf Leben und
körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG.
aa) Schutzpflicht zur Gewährleistung von Leben und körperlicher
Unversehrtheit
Wenn
nämlich das Leben durch die Vorenthaltung lebensnotwendiger Mittel
unmittelbar bedroht ist, ergibt sich aus dem Recht auf Leben ein
Anspruch, vor dem Verhungern oder dem Erfrieren bewahrt zu werden,
wenn die öffentliche Gewalt zurechenbar Kenntnis erlangt und sich ihr
Handlungsmöglichkeiten bieten.
Vgl. Di Fabio – Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 67.
Ergänzungslieferung 2013, Art. 2, Rn. 45; BVerwGE 1, 159 (161 f.),
5, 27 (31).
So
wie das Recht auf Leben den Staat verpflichtet, ggf. Schutzmaßnahmen
für das menschliche Leben zu treffen, hat auch das Recht auf
körperliche Unversehrtheit eine Schutzpflichtendimension.
Vgl. Di Fabio – Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 67.
Ergänzungslieferung 2013, Art. 2, Rn. 81.
Der
Schutzbereich des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit umfasst
unter anderem die Freiheit vor Verletzung der körperlichen Gesundheit
und vor Schmerzen. Maßstab ist eine Zustandsbetrachtung des Körpers
vor und nach einer bestimmten Ursache.
Vgl. Di Fabio – Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 67.
Ergänzungslieferung 2013, Art. 2, Rn. 55 f.
Zwar
begründet das Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG – anders als das
unmittelbare Leistungsgrundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20
Abs. 1 GG – keine unmittelbaren Ansprüche des Einzelnen auf staatliche
Leistungen oder auch nur auf eine im Allgemeinen angemessene
Versorgung:
vgl. BVerwGE 1, 97 (104 f.); Di Fabio – Maunz/Dürig,
Grundgesetz-Kommentar, 67. Ergänzungslieferung 2013, Art. 2, Rn. 94 f.
Doch
hat das Bundesverfassungsgericht eine gewisse Schutzpflicht des
Staates aus diesem Grundrecht gleichwohl anerkannt: Der
objektivrechtliche Gehalt des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG enthalte die
Pflicht des Staates, „sich schützend und fördernd vor die in Art. 2
Abs. 2 GG enthaltenen Rechtsgüter zu stellen“.
BVerfGE 56, 54 (73).
Demnach gibt es jedenfalls einen engen (Kern-)Bereich, in dem sich aus
Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG (ggf. in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip)
auch Leistungsansprüche für die Gesundheitsversorgung ableiten lassen.
Vgl. Seewald, Gesundheit als Grundrecht, 1982, S. 86.
bb) Schutzpflichtverletzung
Wie
oben bereits ausgeführt, führen Leistungskürzungen immer wieder zu
lebensbedrohlichen Situationen bei Sanktionierten.
Ein
depressiver 20-jähriger Sanktionierter starb an Unterversorgung der
Organe in seiner Wohnung. Die Mutter gab an, dass sie sich keine
Nahrungsmittel hätten kaufen können:
http://www.sueddeutsche.de/panorama/speyer-arbeitsloser-verhungert-in-seiner-wohnung-1.666139
(abgerufen am 12.7.2013)
http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/arbeitsloser-in-speyerverhungert/835784.html
(abgerufen am 12.7.2013)
Ein
Sanktionierter musste in ein Krankenhaus wegen Unterernährung
eingeliefert werden:
vgl. Grießmeier, Der disziplinierende Staat, 2012, S. 47 f.
100-%-Sanktionen ohne Sachleistungskompensation gemäß §§ 31 ff. SGB II
können dazu führen, dass Beitragserstattungen für den Kranken- und
Pflegeversicherungsschutz entfallen. Werden die Beiträge über zwei
Monate nicht bezahlt, besteht nur noch ein Anspruch auf die
„Notversorgung“ gem. § 16 Abs. 3a S. 2 1. HS SGB V und eine ärztliche
Versorgung kann im Einzelfall nicht mehr gewährleistet sein.
Darüber hinaus entfällt bei Schwangeren der Mehrbedarf für
Schwangerschaft und bei Personen mit bestimmten Krankheiten der
Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung.
Die
gesundheitsschädlichen Folgen, die eine Sanktionierung mit sich
bringen kann, ergeben sich aus der mangelhaften Versorgung mit
Lebensmitteln, fehlender ärztlicher Versorgung, und der Gefährdung
durch Obdachlosigkeit. Die Betroffenen werden durch die Sanktionen
gezwungen, sich sozial zu isolieren, ungesund zu ernähren und sind
durch die Unterschreitung des Existenzminimums in ihrem physischen und
psychischen Wohlbefinden derart eingeschränkt, dass ihre körperliche
Unversehrtheit und in einzelnen Fällen möglicherweise auch ihr Leben
nicht mehr geschützt ist.
Die
Situation für Sanktionierte, insbesondere „Vollsanktionierte“ kann
bezüglich der Mittel zum physischen Überleben durchaus schlechter
sein, als die von Strafgefangenen in Haftanstalten, die in der Regel
eine ausgeglichene Ernährung und Taschengeld erhalten, auch wenn sie
nicht zu einer Eigenfinanzierung imstande sind. Das in einer Straftat
liegende „Unrecht“ geht augenscheinlich weit über das einer
„Pflichtverletzung“ nach § 31 SGB II hinaus. Ebenso augenscheinlich
liegt in einem (weitreichenden) Entzug der ALG-II-Leistung auf
irgendeine wiederholte Handlung ohne ein irgendwie ersichtliches
Eigen- und Fremdgefährdungspotential eine völlig unangemessene
Gefährdung des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit der
sich pflichtwidrig verhaltenden Hilfebedürftigen.
cc) Zwischenergebnis:
Sofern das zum Überleben Notwendige durch staatliches
Verwaltungshandeln ausgleichslos gekürzt wird, liegt darin zusätzlich
ein dem Staat zurechenbarer und unverhältnismäßiger Eingriff in Art. 2
Abs. 2 S. 1 GG.
4. Verfassungskonforme
Auslegung
Die
Leistungskürzungen nach § 31a i. V. m. § 31, 31b SGB II sind unter
keinen erdenklichen Gesichtspunkten verfassungskonform auslegbar.
a) Allgemeine Auslegungsgrundsätze
Eine
Norm kann durch das Bundesverfassungsgericht nur dann für nichtig
erklärt werden, wenn keine nach anerkannten Auslegungsgrundsätzen
zulässige und mit der Verfassung zu vereinbarende Auslegung möglich
ist:
vgl. nur BVerfGE 118, 212 (234); BVerfGE 49, 148 (157).
Die
verfassungskonforme Auslegung als normbewahrendes Instrument ist
Aufgabe aller Gerichte.
Vgl. Bethge in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge,
Bundesverfassungs-gerichtsgesetz, 39. Ergänzungslieferung 2013,
§ 31bVerfGG, Rn. 258 f. m. w. N.
Lassen Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Gesamtzusammenhang und Sinn
und Zweck einer gesetzlichen Regelung mehrere Deutungen zu, von denen
jedenfalls eine zu einem verfassungsgemäßen Ergebnis führt, muss eine
Auslegung vorgenommen werden, die mit dem Grundgesetz in Einklang
steht:
vgl. BVerfGE 69, 1 (55); 95, 64 (93).
Die
verfassungskonforme Auslegung darf sich dabei aber nicht über die
gesetzgeberischen Intentionen hinwegsetzen. Sie findet ihre Grenzen
dort, wo sie zu dem Wortlaut und zum klar erkennbaren Willen
des Gesetzgebers in Widerspruch treten würde:
vgl. ständige Rspr., insb. BVerfGE 99, 341 (358); 101, 312 (329); 101,
397 (408); 119, 247 (274).
Gesetzgeberische Grundentscheidungen dürfen nicht angetastet werden.
Einem eindeutigen Gesetz darf nicht ein entgegengesetzter
Sinn gegeben werden. Es ist nicht Sache der Rechtsprechung, ein
Gesetz derart auf eine verfassungsgemäße Fasson zurechtzustutzen, dass
der Gesetzgeber es nicht wiedererkennt. Die verfassungskonforme
Auslegung darf nicht zu einer verdeckten Normreformation führen:
vgl. BVerfGE 67, 299 (329); 95, 64 (93); 99, 341 (358); 118, 212
(234); BVerfGE 63, 131 (147 f.); Korioth – Schlaich/Korioth, Das
Bundesverfassungsgericht, 9. Auflage 2012, 5. Teil, Rn. 449; Bethge
in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge,
Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 39. Ergänzungslieferung 2013,
§ 31bVerfGG, Rn. 265.
Daher sind es in erster Linie unbestimmte Rechtsbegriffe, die eine
Auslegung und wertende Konkretisierung durch Verwaltung und Gerichte
erfordern und zulassen.
Vgl. Aschke in: Bader/Ronellenfitsch, Beck'scher Online-Kommentar
VwVfG, Stand: 1.4.2013, § 40, Rn. 24.
b) Keine verfassungskonforme Auslegung des § 31 a Abs. 1 und 2 SGB II
Bei
Leistungskürzungen nach § 31a, § 31b kommt eine verfassungskonforme
Auslegung nicht in Betracht, weil sie contra legem wäre.
Der
Wortlaut des § 31a Abs. 1 und 2 SGB II ist eindeutig, entspricht der
in der Gesetzesbegründung offengelegten Absicht des Normgebers und
lässt keinen Beurteilungsspielraum zu.
Einzige Tatbestandsvoraussetzung für eine Sanktion ist eine
Pflichtverletzung nach § 31 SGB II. Der in § 31 Abs. 1 S. 2 SGB II
normierte unbestimmte Rechtsbegriff des „wichtigen Grundes" kommt
nicht als Abwägungskriterium in Betracht, da er nur zur Definition der
Pflichtverletzung führt, die anschließende Rechtsfolge sich aber
allein nach § 31a SGB II bestimmt. Eine Pflichtverletzung nach § 31
SGB II muss erst festgestellt sein, bevor § 31a Abs. 1 und 2 SGB II
zur Anwendung kommt. Im Anwendungsbereich der Sanktionsnorm gibt es
somit überhaupt keine Entscheidungsmöglichkeit für die Verwaltung
mehr.
Auch
ist die Definition des „wichtigen Grundes“ bereits detailliert von der
Rechtsprechung (durch eine Analogie zum SGB III) vorgenommen worden.
Als wichtige Gründe gelten alle Umstände des Einzelfalls, die unter
Berücksichtigung der berechtigten Interessen des Leistungsberechtigten
in Abwägung mit etwa entgegenstehenden Belangen der Allgemeinheit das
Verhalten des Hilfebedürftigen rechtfertigen.
Vgl. Knickrehm - Kreikebohm, Kommentar zum Sozialrecht, 2. Auflage
2011, Rn. 24; BSG 9.11.2010 – B 4 AS 27/10 R; vgl. auch
Mutschler, § 144 SGB III; ABC des wichtigen Grundes bei Winkler in:
Gagel, § 144 SGB III-Anhang; ähnlich Valgolio in: Hauck/Noftz SGB II,
§ 11 Rn. 74; zum SGB III BSG, 12.7.2006 – B 11 a AL 55/05 R.
Die
Tatbestände des § 31 SGB II entfallen nur, wenn der erwerbsfähige
Leistungsberechtigte einen wichtigen Grund für sein Verhalten darlegt
und nachweist. Wichtige Gründe können z. B. im beruflichen oder
persönlichen Bereich des erwerbsfähigen Leistungsberechtigten liegen.
Ein wichtiger Grund muss jedoch objektiv vorliegen,
vgl. BSG NJW 2011, 2073, 2076; Berlit in: ZfSH/SGB 2008, 1 ff., 6;
Sonnhoff in juris-PK SGB II, Stand 15.8.2011, § 31 Rn. 104; Valgolio
in: Hauck/Noftz, SGB II, Stand 11/2011, § 31 Rn. 167; Knickrehm/Hahn
in: Eicher, SGB II, 3. Auflage 2013, Rn 63 ff.
Diese Definition bietet gerade keinen Raum für eine
rechtsfolgenbezogene Abwägung derart, dass etwa auch die
unverhältnismäßigen Folgen einer Sanktion den Tatbestand entfallen
lassen könnten.
Auch
auf Rechtsfolgenseite findet sich bei § 31a ff. SGB II kein
unbestimmter Rechtsbegriff. Im Unterschied zu § 1a AsylbLG sowie zur
früheren Vorschrift des § 25 BSHG findet durch §§ 31a, 32 SGB II
keine Absenkung der Leistung auf das „nach den Umständen
unabweisbar Gebotene“ bzw. das „zum Lebensunterhalt Unerlässliche“
statt, sondern es werden exakte prozentuale Leistungskürzungen
(Sanktionsstufen) vorgegeben: um 10 % bzw. 30 %, 60 %, 100 % sowie das
völlige Entfallen des ALG-II-Anspruchs inklusive der Kosten für
Krankenkasse und für Unterkunft und Heizung.
Auch
hinsichtlich der Verhängung einer Sanktion sowie bezüglich der
Dauer einer Leistungskürzung ist kein Ermessen der Verwaltung
(z. B. durch Einzelfallprüfung oder Härtefallklausel) vorgesehen.
§ 31a SGB II etabliert sie vielmehr als zwingende Rechtsfolge ohne
Ausnahmetatbestände. § 31b Abs. 1 S. 3 SGB II sieht zusätzlich eine
starre Dauer des Minderungszeitraums von drei Monaten vor, einzig bei
Unter-25-Jährigen kann er auf (wiederum starre) sechs Wochen reduziert
werden.
An
diese strikten gesetzlichen Vorgaben ist die Verwaltung aufgrund des
Vorrangs des Gesetzes und sind auch die überprüfenden Gerichte in
jedem Einzelfall gebunden. Eine Möglichkeit, durch eine
Einzelfallabwägung eine Sanktion nicht zu verhängen oder diese
aufgrund von Verhältnismäßigkeitserwägungen zu reduzieren
(zu dieser Möglichkeit bei Kürzungen des alten § 25 BSHG vgl. BVerwG,
V C 109.66 vom 31.1.1968),
ist
im SGB II nicht vorgesehen. Ausdrücklich wird durch § 21 b Abs. 2 SGB II
auch das Ausweichen auf Leistungen des SGB XII verwehrt.
Eine
Auslegung, die dazu führte, dass trotz Einschlägigkeit der §§ 31a ff.
SGB II keine verminderten, sondern reguläre Leistungen entrichtet
werden könnten (wie sie durch einige Gerichte im Bereich des § 1a
AsylbLG erfolgt) wäre daher offensichtlich unzulässig.
Sie
wird – soweit ersichtlich – auch weder in der Literatur noch in der
Rechtsprechung vertreten.
c) Keine verfassungskonforme „Anwendung“ durch § 31 a Abs. 3 SGB III
Im
Bereich der Sanktionen zwischen 30 % und 100 % lässt sich ebenfalls
keine verfassungskonforme Auslegung erreichen. Insbesondere durch ein
Zusammenspiel der § 31a Abs. 1 SGB II i. V. m. § 31a Abs. 3 SGB II ist
keine Verfassungskonformität herstellbar.
Eine
Einzelfallentscheidung der Verwaltung über die Vergabe von
Sachleistungen kann bereits per se unmöglich einen Verfassungsverstoß
beheben, der in einer anderen, sie bedingenden
Rechtsnorm selbst begründet liegt.
Eine solche
„verfassungskonforme Anwendung“ durch Zusammenlesen der
Sanktionsnormen mit der Sachleistungsregelung des § 31a Abs. 3 SGB II
wird jedoch in der Literatur zum Teil propagiert:
vgl. z. B. Davilla, SGb 2010, 557, 559 und Lauterbach, ZFSH/SGB 2011,
584, 585; auch Stellungnahme des DRB zur öffentlichen Anhörung des
Ausschusses für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestags vom
6.6.2011, Nr. 3. Annahme einer Verfassungswidrigkeit insoweit: Richers/Köpp,
DÖV 2010, 997, 1003 f.
Auch in der Rechtsprechung
wird diese „Lösung“ zur Anwendung der Sanktionsnormen offenbar
vertreten, z. B. indem Sanktionen um 100 % für verfassungswidrig
gehalten werden, sofern „der Grundsicherungsträger nicht
zugleich ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen
gewährt“ [Hervorh. d. Verf.],
so SG Berlin vom 19.8.2009 – S 26 AS 5380/09, juris Rn. 29 f., im
Anschluss an Landessozialgericht Berlin 10. Senat vom 16.12.2008 - L
10 B 2154/08 AS ER-, Rn. 10); vgl. auch LSG Niedersachsen, Beschluss
vom 21.4.2010 – L 13 AS 100/10 B ER, Rn. 7 f.
Doch
zum einen bleibt die Sanktion in Höhe von mindestens 30 % in allen
darüber liegenden Sanktionsfällen trotz der Sachleistungsvergabe
bestehen. Eine Kompensation durch Sachleistungen kommt überhaupt nur
bei Sanktionen ab 40 % (bis zu einer Höhe von ca. 46 % des
Regelbedarfs) in Betracht. Da nach dem Gesetzgeber allein der volle
Regelsatz das menschenwürdige Existenzminimum sicherstellt (100 % des
Regelbedarfs, eventueller Mehrbedarfe und der Kosten für Unterkunft
und Heizung nach §§ 20 ff. SGB II), scheidet eine verfassungskonforme
Anwendung bereits aus diesem Grund aus.
Zum
anderen ist in diesen Fällen die Gewährleistung von Sachleistungen von
der Antragstellung durch den Betroffenen abhängig. D. h., es braucht
ein aktives Verhalten des (meist gerade aufgrund seiner
fehlenden Aktivität sanktionierten) Bedürftigen als Zwischenschritt,
um überhaupt eine Kompensationsmöglichkeit zu erreichen. Selbst dann
liegt die Bewilligung der Sachleistungen noch im Ermessen der
Verwaltungsbehörde.
Das
in § 31a Abs. 3 S. 1 SGB II festgelegte Ermessen bei der
Sachleistungsgewährung, wonach „der Träger auf Antrag in angemessenem
Umfang ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen erbringen (kann)“
[Hervorh. d. Verf.], lässt sich schwerlich als gebundene Entscheidung
lesen.
Eine
solche Auffassung, das „kann“ im Gesetzestext als „muss“
auszulegen, widerspräche dem eindeutigen Wortlaut der Norm und
überschreitet damit die Grenze zulässiger Auslegung.
Außerdem hat der Gesetzgeber eine Ermessenregelung gerade
beabsichtigt. Denn nach § 31a Abs. 3 S. 2 SGB II „hat“ der Träger
in Fällen, in denen minderjährige Kinder im Haushalt des Bedürftigen
leben, die Leistungen zu erbringen. Hier wurde der Verwaltung vom
Gesetzgeber also in bewusstem Gegensatz zum Vorsatz kein
Ermessenspielraum zugestanden. Dem entspricht die Gesetzesbegründung,
in der explizit festgehalten wurde, dass die „Erbringung von
Sachleistungen an Bedarfsgemeinschaften mit minderjährigen Kindern als
Verpflichtung zur Leistungserbringung“ [Hervorh. d. Verf.]
auszugestalten sei.
Bundestags-Drucksache 17/3404, S. 112.
Daraus ergibt sich im Umkehrschluss, dass eine zwingende
Sachleistungsvergabe eben gerade nicht für die übrigen
Haushalte gelten sollte.
Eine
Ermessensreduzierung auf Null bei der Sachleistungsvergabe zumindest
im Fall einer 100-%-Sanktion anzunehmen – wie in der Literatur und
Rechtsprechung zum Teil befürwortet – scheidet gleichfalls aus. Sie
könnte ebenfalls lediglich zur Abmilderung der (von Grund auf
verfassungswidrigen) Folgen einer hohen Leistungskürzung führen, den
Verfassungsverstoß selbst jedoch nicht beseitigen.
Ebenso scheidet es aufgrund des eindeutigen Wortlauts („auf
Antrag“) aus, in diesen Fällen Sachleistungen etwa ohne Antrag
zu gewähren.
Auch
die Gewährung staatlicher Leistungen über „Umwege“ durch
kompensatorische Zuschläge an die übrigen Mitglieder der
Bedarfsgemeinschaft
(vgl. zu diesem Vorschlag Geiger, info also 1/2010, S. 1 ff. (9)),
würde bloß zu einer Umgehung der unmissverständlichen gesetzlichen
Regelung führen.
Wenn
das Verwaltungshandeln jedoch nur dann das Existenzminimum
sicherstellt, wenn es gerade nicht auf Grundlage sondern
entgegen einer leistungskürzenden Rechtsnorm Leistungen gewährt,
kann es offensichtlich nicht zu einer verfassungskonformen
Auslegung der leistungskürzenden Rechtsnorm führen. Im Gegenteil ist
dann in Wirklichkeit deren Nichtanwendung im Einzelfall die
Voraussetzung für die Sicherstellung des menschenwürdigen
Existenzminimums.
Die
an dieser Stelle lediglich angedeuteten, teilweise geradezu
akrobatischen „Lösungen“ der rechtswissenschaftlichen Literatur zur
verfassungskonformen Auslegung der Sanktionsnormen laufen im Ergebnis
allesamt auf die Aufrechterhaltung bestimmter notwendiger Leistungen
trotz des tatbestandlichen Eingreifens der §§ 31a ff. SGB II hinaus.
Sie führen damit zu einer Umgehung des Wortlauts der Norm und laufen
der gesetzgeberischen Intention zuwider, die gerade in der engen und
ausnahmslosen Verknüpfung der staatlichen
Leistungsgewährung mit Pflichten des Hilfebedürftigen liegt
und damit bewusst von den individuellen Bedarfen der
Sanktionierten abstrahiert.
d) Zwischenergebnis:
Nach
alledem scheidet eine verfassungskonforme Auslegung der
streitgegenständlichen Normen aus.
5.
Ergebnis
§ 31a i. V. m. § 31 und § 31b SGB II verstoßen gegen Art. 1 Abs. 1 i.
V. m. Art. 20 Abs. 1 GG, Art. 3 Abs. 1 GG, Art. 12 Abs. 1 GG und sind
verfassungswidrig. Sie sind nicht verfassungskonform auslegbar.
Das
Gericht hat das Verfahren gemäß Art. 100 Abs. 1 GG i. V. m. § 80 Abs.
1 BVerfGG auszusetzen und dem Bundesverfassungsgericht zur
Entscheidung vorzulegen, ob die §§ 31, 31a, 31b SGB II vereinbar sind
mit dem Grundgesetz, insbesondere mit Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20
Abs. 1 GG, Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG.
-------------------------------------------------------
ANHANG – Meinungsstand in Literatur und
Rechtsprechung:
In der
Literatur und in der Rechtsprechung ist die Frage der
Verfassungskonformität von Leistungskürzungen nach §§ 31 ff. SGB II
bzw. die Möglichkeit der verfassungskonformen Auslegung und Anwendung
der einzelnen Sanktionstatbestände z.T. heftig umstritten.
1. Grundsätzliche Kritik an Leistungskürzungen nach dem
SGB II
Sanktionen werden von Juristen, Sozialarbeitern und
Politikern verschiedener Parteien seit Jahren zum Teil aufs Heftigste
kritisiert. Sie werden in erster Linie für
politisch verfehlt bzw. nicht
sachdienlich gehalten:
Vgl. nur Götz/Ludwig-Mayerhofer/Schreyer, Sanktionen im SGB II - Unter
dem Existenzminimum, IAB-Kurzbericht 10/2010;
Bündnis für ein Sanktionsmoratorium:
http://www.sanktionsmoratorium.de/pdfs/aufruf_lang_web.pdf;
Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Reform der Sanktionen im SGB
II, Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge, 11.6.2013,
DV 26/12 AF III;
Ames, Anne, Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen nach § 31 SGB II,
2009, S. 12 ff.; Grießmeier, Nicolas, Der disziplinierende Staat,
2012, S. 40 ff.; Niedersachsen kündigt Bundesratsinitiative zum
Sanktionsstopp an:
http://www.paz-online.de/Nachrichten/Politik/Niedersachsen/
Niedersachsen-fordert-Stopp-von-Hartz-IV-Strafen;
Antrag der LINKEN auf Abschaffung der Sanktionen: dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/051/1705174.pdf;
Position der GRÜNEN:
http://www.gruene-bundestag.de/parlament/bundestagsreden/2013/april/hartz-iv-sanktionen_
ID_4388231.html.
(Links abgerufen am 12.7.2013)
Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom
9.2.2010 wurde in der rechtswissenschaftlichen Literatur auf die
verfassungsrechtliche Problematik von Sanktionen im SGB II
hingewiesen.
So bemerkte Rixen als Reaktion auf die
BVerfG-Entscheidung:
„Trotz der vergleichsweise knapp bemessenen Zeit
empfiehlt es sich für den Gesetzgeber zu prüfen, ob die
Absenkungsregeln des § 31 SGB II dem Grundrecht auf Gewährleistung
des menschenwürdigen Existenzminimums standhalten.“ [Hervorh. d.
Verf.]
Rixen, in: SGb 2010, 240-245 (245); vgl. derselbe in: Fordern oder
Fördern? Rechtliche Grenzen der Arbeitsmarktpolitik durch Sanktionen,
in: Transmission 05, 2011, Wege aus dem Abseits: Sanktionen und
Anreize in der Sozialpolitik, S. 32 ff. (51).
Er stellte die Frage: „Darf die Sanktion so weit gehen,
dass das Existenzminimum nicht mehr gesichert ist?“ [...] Wenn
aber die Leistungen durch eine Sanktion nach § 31 SGB II ‚auf Null`
abgesenkt werden, dann ist evident nichts mehr da, dann ist das
Existenzminimum nicht beziehungsweise kaum noch gesichert;
sieht man einmal davon ab, dass der Leistungsträger nach Ermessen noch
bestimmte Leistungen erbringen kann, etwa bei den unter 25-Jährigen
für Unterkunft und Heizung.“
Rixen, Stephan, in: Fordern oder Fördern? Rechtliche Grenzen der
Arbeitsmarktpolitik durch Sanktionen, in: Transmission 05, 2011, Wege
aus dem Abseits: Sanktionen und Anreize in der Sozialpolitik, S. 32
ff. (51 f.)
Angermeier
kommentierte das Urteil des Bundesozialgerichts vom 9.11.2010 vor dem
Hintergrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit
folgenden Worten:
„Die Aussage des BSG, es bedürfe in einem Fall der
Absenkung bzw. Minderung des Arbeitslosengeld II wie hier für vier
Monate um 20 v. H. bzw. 30 v. H. der maßgebenden Regelleistung keiner
weiteren Prüfung eines Verstoßes gegen verfassungsrechtliche Normen,
wenn der Grundsicherungsträger zeitgerecht ergänzende Sachleistungen
in angemessenem Umfang angeboten habe, die von den Hilfebedürftigen
auch in Anspruch genommen worden seien, wird dem Grundrecht auf
Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1
GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG) womöglich nicht gerecht. [...] Die
Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit kommen nicht umhin, sich
ihrer Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) bewusst zu
werden und gewissenhaft zu prüfen, ob in einem bei ihnen
anhängigen Verfahren, bei dem die §§ 31 ff. SGB II eine Rolle spielen,
nicht eine Vorlage an das BVerfG (Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG)
angezeigt ist.“ [Hervorh. d. Verf.]
Angermeier, Anmerkung zu Urteil des BSG vom 9.11.2010 - B 4 AS 27/10
R, in: jurisPR-SozR 6/2012 Anm. 2.
In der
rechtswissenschaftlichen Literatur sind diverse Versuche unternommen
worden, die Verfassungswidrigkeit der Sanktionsregelungen im Detail zu
belegen.
Vgl. z. B. Däubler: Absenkung und Entzug des ALG II – ein Lehrstück
zur Verfassungsferne des Gesetzgebers, in: info also, 2/2005, S. 51
ff.; RA Mundt, Hartz IV – Rechtsprobleme des SGB II und seiner
Anwendung, Expertise im Auftrag der Bundestagsfraktion DIE LINKE,
2008, S. 25 ff.
Grießmeier
forderte bereits 2009 aufgrund eines Verstoßes gegen „Art. 20 in
Verbindung mit Art. 1 Soziokulturelles Existenzminimum“ eine
entsprechende Verfassungsbeschwerde:
Vgl. Grießmeier, Der disziplinierende Staat, S. 62 ff.
Nešković/Erdem
formulieren grundsätzliche verfassungsrechtliche Kritik am bestehenden
System der Sanktionen nach den §§ 31 ff. SGB II. Ausgehend von der
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9.2.2010, halten sie
jede Kürzung der Regelsätze durch die Verwaltung für einen
unzulässigen Eingriff in das (durch den Gesetzgeber mit dem RBEG
konkretisierte) Grundrecht auf Zusicherung des menschenwürdigen
Existenzminimums:
Nešković/Erdem, Zur Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei Hartz IV
– Zugleich eine Kritik am Bundesverfassungsgericht, in: SGb 2012, S.
134 ff.; dieselben, Für eine verfassungsrechtliche Diskussion über die
Menschenwürde von Hartz-IV-Betroffenen, in: SGb 2012, 326 ff.
2. Die
Rechtsprechung zu § 1 a AsylbLG
Dieser verfassungsrechtlichen Argumentation sind
infolge der Entscheidung des BVerfG vom 18.7.2012 nicht nur Teile der
Literatur,
vgl. Classen/Kanalan, Verfassungsmäßigkeit des
Asylbewerberleistungsgesetzes, in: info also 06/2010, S. 243 – 249,
sondern auch eine Reihe von Sozialgerichten und
Landessozialgerichten gefolgt – im Bereich der Sanktionen im
Asylbewerberleistungsgesetz (§ 1a AsylbLG).
Im Anschluss an das SG Altenburg, S 21 AY
3362/12 ER und das SG Lüneburg, S 26 AY 4/11, hat das
Sozialgericht Düsseldorf am 19.11.2012 erkannt:
„Die nicht zu unterschreitende Grenze einer
Anspruchseinschränkung ist [...] das verfassungsrechtlich garantierte
Existenzminimum gem. Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG zur
Führung eines menschenwürdigenden Lebens [...] Dies gilt ebenfalls für
das soziokulturelle Existenzminimum.“ [Hervorh. d. Verf.]
SG Düsseldorf, Beschluss vom 19.11.2012, S 17 AY 81/12 ER, juris Rn.
10.
Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen hat
am 24.4.2013 ausgeführt, die nähere Charakterisierung des Grundrechts
auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums durch das
BVerfG erscheine „in einer Weise unmissverständlich und insbesondere
vorbehalt- bzw. bedingungslos (vgl. o.), dass für
Leistungsabsenkungen auf ein Niveau unterhalb von das
Existenzminimum sichernden Leistungen kein Raum bleibt […] Denn bietet
Art. 1 Abs. 1 i.Vm. Art. 20 Abs. 1 GG - so ausdrücklich das BVerfG
(vgl. a.a.O. Rn. 90 und 129) - eine einheitliche grundrechtliche
Garantie auf die zur Wahrung eines menschenwürdigen
Existenzminimums notwendigen materiellen Voraussetzungen, so lässt
dies keinen Raum für eine Reduzierung des Grundrechts auf
einen Kernbereich der physischen Existenz. [...] Auch ein weiter
Gestaltungsspielraums erlaubt jedoch nicht eine Leistungsgewährung
unterhalb des vom Gesetzgeber selbst als derzeit anzuerkennen
festgelegten Existenzminimums.“ [Hervorh. d. Verf.]
Landessozialgericht NRW, L 20 AY 153/12 B ER, 24.4.2013, Rn. 53 ff.
Eine beachtliche Anzahl von Sozial- und
Landessozialgerichten wenden mittlerweile die Vorschrift des § 1a
AsylbLG (Leistungskürzung aufgrund missbräuchlicher Einreise oder
mangelnder Mitwirkung an aufenthaltsbeendenden Maßnahmen) – durch eine
dort mögliche „verfassungskonforme Auslegung“ – de facto nicht mehr
an. Einige geben bereits im einstweiligen Rechtsschutz (!) den Klägern
Recht und halten eine Kürzung „nach § 1a AsylbLG auf ein Niveau
unterhalb des Existenzminimums“ für unzulässig oder halten die
Zulässigkeit zumindest für offen:
vgl. LSG NRW, L 20 AY 153/12 B ER, 24.4.2013, Rn. 45, 53 mit Verweis
auf LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 6.2.2013 - L 15 AY 2/13 B
ER; SG Lüneburg, Beschluss vom 13.12.2012 - S 26 AY 26/12; SG
Düsseldorf, Beschluss vom 19.11.2012 - S 17 AY 81/12 ER; SG Altenburg,
Beschluss vom 11.10.2012 - S 21 AY 3362/12 ER; SG Köln, Beschluss vom
25.1.2013 - S 21 AY 6/13 ER; SG Leipzig, Beschluss vom 20.12.2012 - S
5 AY 55/12 ER; SG Gelsenkirchen, Beschluss vom 21.1.2013 - S 32 AY
120/12; SG Magdeburg, Beschluss vom 24.1.2013 - S 22 AY 25/12 ER; SG
Stade, Beschluss vom 28.1.2012 - S 19 AY 59/12 ER; SG Würzung,
Beschluss vom 1.2.2013 - S 18 AY 1/13 ER.
3. Die
Rechtsprechung zu §§ 31 ff. SGB II
Im Bereich des SGB II ist bislang keine solche Reaktion
infolge des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum
Asylbewerberleistungsgesetz zu verzeichnen. Allerdings erscheint dort
eine vergleichbare verfassungskonforme Auslegung der §§ 31 ff. SGB II
auch nicht möglich.
Zur Unmöglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung s.
Vorlageantrag unter 3.
Einige Sozialgerichte
und Landessozialgerichte halten jedoch die Sanktionierung um
100 % für verfassungswidrig, wenn dadurch das „physische
Existenzminimum des Hilfebedürftigen nicht mehr gesichert ist und der
Grundsicherungsträger nicht zugleich ergänzende
Sachleistungen oder geldwerte Leistungen gewährt“:
so SG Berlin vom 19.8.2009 – S 26 AS 5380/09, juris Rn. 29 f., im
Anschluss an Landessozialgericht Berlin 10. Senat vom 16. Dezember
2008 - L 10 B 2154/08 AS ER-, Rn. 10); vgl. auch LSG Niedersachsen,
Beschluss vom 21.4.2010 – L 13 AS 100/10 B ER, Rn. 7 f.
Von den
meisten Sozialgerichten werden die §§ 31 ff. SGB II indes schlicht
ohne Erörterung angewendet, d. h. offenbar für verfassungsrechtlich
unproblematisch erachtet. Eine nähere Begründung und entsprechend eine
argumentative Auseinandersetzung mit der vorgebrachten
verfassungsrechtlichen Kritik erfolgt dabei meist nicht.
Auch das
Bundessozialgericht sah jedenfalls bis 2010 keine Bedenken bei
der Anwendung von Sanktionen, wenn Sachleistungen angeboten worden
sind und von diesen auch tatsächlich Gebrauch gemacht worden ist.
Entsprechend hat es die Entscheidung für entbehrlich gehalten, ob die
bestehenden Sanktionsmöglichkeiten „als ein dem Grundsatz der
Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns genügender Ausdruck der
verfassungsrechtlich bestehenden Selbsthilfeobliegenheit als
Kehrseite der Gewährleistungspflicht des Staates anzusehen sind.“
BSG, Urteil vom 9.11.2010 – B 4 AS 27/10 R, juris Rn. 34.
4.
Grundsätzliche Befürwortung der Sanktionstatbestände
Diejenigen Teile der rechtswissenschaftlichen Literatur, die
Sanktionen für grundsätzlich zulässig erachten, fassen diese als
Mitwirkungsobliegenheiten auf, bei deren Nichterfüllung eine
Verkürzung des regulären Leistungsanspruchs trotz der Unverfügbarkeit
des Grundrechts für zulässig erachtet wird:
vgl. Knickrehm, Arbeitsmarktpolitik und Sanktionen im SGB II und SGB
III - Entwicklung, Auswirkungen und Wirkungen, ArbuR 2011, 237, 239;
Lauterbach, ZFSH/SGB 2011, 584; Burkiczak, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching,
Beck'scher Online Kommentar, Stand: 1.12.2012, § 31 a, Rn. 12 f;
Berlit, Das neue Sanktionensystem, ZFSH/SGB 2006, S. 15.
Der
sanktionierte Hilfebedürftige wird danach als vermindert schutzwürdig
angesehen. Entsprechend stellt sich auch ein zeitweilig "hinreichend
begründeter vollständiger Verzicht auf Versorgung" nicht einmal als
ermessensfehlerhaft dar.
Vgl. Burkiczak, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, Beck'scher
Online Kommentar, Stand: 1.12.2012, § 31a SGB II, Rn. 13.
Zugleich
wird laut Burkiczak durch § 31 a Abs. 3
S. 1
SGB II angeblich sichergestellt, dass die „letzte Grundversorgung“
erhalten bleibe, so dass der erwerbsfähige Leistungsberechtigte nicht
in seiner Existenz gefährdet werde:
Burkiczak, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, Beck'scher Online
Kommentar, Stand: 1.12.2012, § 31 a SGB II, Rn. 12.
Ähnlich
wie Burkiczak äußert der überwiegende Teil der grundsätzlichen
Sanktionsbefürworter zugleich verfassungsrechtliche Kritik an der
konkreten gesetzlichen Ausgestaltung und schränkt ihre Auffassung von
der Zulässigkeit von Sanktionen somit selbst wieder ein.
5.
Eingeschränkte Kritik an den gegenwärtigen Sanktionsregelungen
Ein
großer Teil der Literatur hält Sanktionen mit Einschränkungen für
zulässig, wobei die geltende Rechtslage häufig als
verfassungsrechtlich problematisch bezeichnet wird.
Insbesondere wird dabei mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
argumentiert.
So hält
z. B. Lauterbach das Entfallen der Bedarfe nach § 22 SGB II für
bedenklich:
Lauterbach, Verfassungsrechtliche Probleme der Sanktionen im
Grundsicherungsrecht, ZFSH/SGB 2011, S. 585.
Auch hält
er die Verhängung einer Sanktion von 60 % bzw. 100 % ohne die
Gewährung von Sachleistungen für in der Regel unverhältnismäßig, wenn
eine angemessene Lebensmittelversorgung anderweitig nicht
gewährleistet ist:
vgl. Lauterbach, in: Gagel, SGB II, 48. Ergänzungslieferung 2013, §
31, Rn. 2.
Zudem kritisiert er die „Funktion einer `Strafnorm`
mit generalpräventivem Charakter“ und sieht in den starren
Rechtsfolgen der Sanktionsnormen einen Konflikt mit dem
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz:
Lauterbach, Verfassungsrechtliche Probleme der Sanktionen im
Grundsicherungsrecht, ZFSH/SGB 2011, 584, 586.
Berlit,
der Leistungskürzungen grundsätzlich für verfassungsrechtlich zulässig
hält, schränkt in gleichem Atemzug ein:
„Dies
bedeutet [...] nicht, dass das geltende Sanktionssystem in all
seinen Ausformungen verfassungsrechtlich unbedenklich ist.
[...] Der Gesetzgeber darf auch bei grob pflichtwidrigem Handeln
den Leistungsberechtigten nicht in eine Situation bringen,
in der das physische Existenzminimum aktuell nicht gewährleistet
ist und der Leistungsberechtigte auch sonst keine Chance hat, sich die
hierfür erforderlichen Mittel legal kurzfristig anderweitig zu
beschaffen.“ [Hervorh. d. Verf.]
Berlit, Minderung der verfügbaren Mittel – Sanktionen und Aufrechnung
im SGB II, ZFSH/SGB 2012, 562 ff. (567),
Schnath
vertritt die Auffassung, dass zumindest „das zum Überleben
Notwendige sicher zu stellen ist“ und ein Sanktionsregime, welches
das Überlebensnotwendige – auch zeitweise – nicht sichert,
verfassungswidrig sei:
Schnath, Das neue Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen
Existenzminimums, NZS 2010, S. 301.
Herold-Tews
hält es für problematisch, dass § 31a SGB II keine Härteregelungen
vorsieht:
Herold-Tews, in: Löns/Herold-Tews, SGB II, Grundsicherung für
Arbeitssuchende, 3. Auflage, 2011, § 31 a, Rn. 27.
Hirschboeck
formuliert hinsichtlich einer vollständigen Leistungsstreichung
verfassungsrechtliche Bedenken:
Hirschboeck, Sozialhilfemissbrauch in Deutschland aus juristischer
Sicht, 2004, S. 114 f.
Sonnhoff
hält einen Verstoß gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip für möglich,
wenn eine Sanktion von 100 % über drei Monate verhängt werden könnte.
Dabei sei besonders problematisch, dass auch die Kosten für Unterkunft
entfallen.
Sonnhoff, in: Radüge, jurisPK-SGB II, 3. Auflage, 2012, § 31 a, Rn.
25.
Berlit
führt aus, dass Zeitdauer und Umfang der Minderung zu unflexibel
seien:
Berlit, in: Münder, LPK-SGB II, § 31 a, Rn. 5.
Ähnlich wird argumentiert, dass die sachbearbeitende
Person derzeit keine Möglichkeit habe, auf besondere Härten im
Einzelfall einzugehen.
Vgl. hierzu: Loose, Sanktionierung von Pflicht und
Obliegenheitsverletzungen im Bereich der Grundsicherung für
Arbeitsuchende, ZFSH/SGB 2010, S. 345.
Auch nach Lauterbach widerspricht „die Starrheit
des Sanktionsmechanismus“ dem Ziel der Aktivierung und gebe den
Regelungen „Strafcharakter“:
Lauterbach, in: Gagel, SGB II, 48. Ergänzungslieferung 2013, § 31, Rn.
1.
Köpp/Richers
halten das Antragserfordernis und das Ermessen der Verwaltung bei der
Sachleistungsvergabe für verfassungsrechtlich problematisch und
befürworten zudem eine Sachleistungsgewährung, die den Betroffenen zum
einen die Möglichkeit von Alternativen gewährt und zum anderen keine
diskriminierende Wirkung entfaltet.
Köpp/Richers, Wer nicht arbeitet, soll dennoch essen, DÖV 2010, S.
1000.
6.
Argumentationsmuster Aufspaltung des Existenzminimums
Bei der
verfassungsrechtlichen Begründung und Argumentation für die
grundsätzliche Zulässigkeit von Sanktionen nach § 31 ff. SGB II
erfolgt in der Fachliteratur meist eine weitergehende Aufteilung des
Existenzminimums. Dabei wird ein Kernbereich des Existenzminimums
ausgemacht, meist als „physisches Existenzminimum“ bezeichnet.
Burkiczak - BeckOK, SGB II § 31a Rn. 12; Berlit, info also 2011 Heft
2, 53, 54 f.; vgl. bereits BSG vom 22.4.2008 - B 1 KR 10/07, juris Rn.
31. Auch bezeichnet als „Menschenwürdesockel“ (Richers, Dominik/Köpp,
Matthias, Wer nicht arbeitet, soll dennoch essen, DÖV 2010, 997, 1001)
oder „absolutes Existenzminimum“ (Stellungnahme des Deutschen
Richterbundes zur öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Arbeit und
Soziales des Deutschen Bundestages vom 6.6.2011, Nr. 3).
Lediglich
dieser „Kern“ des Existenzminimums wird als unverfügbar angesehen.
Vgl. Burkiczak - BeckOK, SGB II § 31a Rn. 12 f.; Berlit, info also
2011 Heft 2, 53, 54 f.; Richers/Köpp, DÖV 2010, 997, 1000 f.;
Lauterbach, ZFSH/SGB 2011, 584, 585.
Bezüglich
des über das physische Überleben hinaus Erforderlichen wird dem
Gesetzgeber die Möglichkeit zuerkannt, Leistungen gar nicht zu
gewähren oder an Obliegenheiten zu knüpfen, solange dies nur
verhältnismäßig geschehe.
So ist
etwa Burkiczak
der
Auffassung, bei Leistungsminderungen bis zu 30 % bedürfe es einer
Kompensation durch Sachleistungen nicht, weil „insofern das physische
Existenzminimum nicht betroffen“ sei – eine solche Absenkung wirke
sich „nur auf die Möglichkeiten zur Teilhabe am gesellschaftlichen
Leben aus“.
Burkiczak - BeckOK, SGB II § 31a Rn. 12 f.
Ähnlich
argumentiert Lauterbach, nach dem „im Einzelfall nicht das für
die physische Existenz des Menschen unerlässliche Maß der staatlichen
Leistungsgewährung“ unterschritten werden dürfe:
Lauterbach, ZFSH/SGB 2011, 584, 585.
Davilla
ist der Ansicht, „aus der Tatsache, dass die Höhe der Regelleistung
nicht verfassungswidrig ist“, ergäbe sich „die weiterhin bestehende
Möglichkeit der Absenkung der Leistungen“, soweit sie den „Kern des
Existenzminimums nicht beeinträchtigen“.
Davilla, SGb 2010, 557, 559.
Und
Richers/Köpp halten das Grundrecht für in seinem „Randbereich
(erweitertes Existenzminimum) der Abwägung mit anderen
Verfassungsgütern zugänglich – und damit auch prinzipiell bedingbar“.
Richers/Köpp, DÖV 2010, 997, 1001.
Sie weisen gleichzeitig aber darauf hin, dass schon bei
einer Kürzung des Leistungsanspruchs um 30 % die physische Existenz
einen Menschen gefährdet sein kann:
Vgl. Richers/Köpp, DÖV 2010, 997, 1003 f.
Bei
dieser Aufteilung in einen verfügbaren Außenbereich und einen
unverfügbaren Kernbereich wird die Wertung des
Bundesverfassungsgerichts verkannt, nach der der verfassungsrechtliche
Leistungsanspruch das „gesamte Existenzminimum“ durch eine
„einheitliche grundrechtliche Garantie“ gewährleistet, die neben der
physischen Existenz des Menschen auch die Sicherung der „Möglichkeit
zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an
Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben
umfasst“.
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 135.
Der
gesetzliche Leistungsanspruch muss „stets den gesamten
existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers“
decken. [Hervorh. d. Verf.]
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 137.
Das
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen ist der Aufspaltung des
Existenzminimums erst kürzlich argumentativ entgegen getreten:
„Eine
derartige Aufspaltung des Existenzminimums in einen unantastbaren
physischen Kernbereich und einen ganz oder teilweise
vernachlässigungsfähigen gesellschaftlich-kulturellen Teilhabebereich
ist jedoch mit dem einheitlichen Gewährleistungsumfang des
Grundrechts unvereinbar. Denn bietet Art. 1 Abs. 1 i.Vm. Art.
20 Abs. 1 GG - so ausdrücklich das BVerfG (vgl. a.a.O. Rn. 90 und 129)
- eine einheitliche grundrechtliche Garantie auf die zur Wahrung eines
menschenwürdigen Existenzminimums notwendigen materiellen
Voraussetzungen, so lässt dies keinen Raum für eine Reduzierung
des Grundrechts auf einen Kernbereich der physischen Existenz.
Das Minimum für die Existenz bezeichnet vielmehr bereits denklogisch
einen nicht unterschreitbaren Kern. Der gesamte
Leistungsumfang des Existenzminimums muss somit zugleich sein
Mindestinhalt sein (so auch Neskovic/Erdem, Zur
Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei Hartz IV - Zugleich eine
Kritik am Bundesverfassungsgericht, in SGb 2012, S. 134 ff., 137), der
,in jedem Fall und zu jeder Zeit` gewährleistet sein muss.“ [Hervorh.
d. Verf.]
Landessozialgericht NRW, L 20 AY 153/12 B ER, 24.4.2013, Rn. 55.
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