Anmerkung:
Folgender Aufsatz wurde 1993 in der
Zeitschrift „Kantstein“, Hamburg, veröffentlicht unter dem Titel:
Naturwissenschaft und die „Wissenschaft
der Wissenschaften“
Vom Drama des Fehlens von
Erkenntniswissenschaft
1892 - vor nun mehr als 100 Jahren - trat ein junger Philosoph mit
einer Schrift an die Öffentlichkeit, in der es heißt:
„Erkenntniswissenschaft soll eine
wissenschaftliche Untersuchung desjenigen sein, was alle übrigen
Wissenschaften ungeprüft voraussetzen: des Erkennens selbst. Damit ist
ihr von vorneherein der Charakter der philosophischen
Fundamental-wissenschaft zugesprochen ... Sie bildet in dieser Hinsicht
die Grundlage für alles wissenschaftliche Streben.“
Nun - dieser Philosoph hat nicht nur
als erster die Aufgabe der Erkenntniswissen-schaft richtig erfasst - er
hat sie auch denkbar gründlich und umfassend gelöst!
[1]
Rosa Mayreder, eine bedeutende
philosophische Schriftstellerin des vorigen Jahrhunderts, schreibt ihm
darüber:
„Es scheint mir, dass Sie dasjenige,
was der Geist des Menschen Jahrtausende lang in geheimnisvollen,
phantastischen, abstrusen Bildern und Zeremonien auszudrücken
strebte, zum ersten Mal in das Gebiet der Vernunft erhoben und ihm
eine klare begriffliche Formulierung verliehen haben. Und ich
betrachte Ihren Geist als die Frucht einer langen Entwicklungsreihe
und Ihr philosophisches System als das endliche Gelingen eines
oftmals und in den mannigfaltigsten Formen angestellten Versuchs.“
Der „junge Philosoph“, an den sich
diese Worte richteten, war der 30-jährige Rudolf Steiner. In der
Geschichte der Wissenschaften steht er schlechthin als der erste
Begründer und erste Vollzieher der Erkenntniswissenschaft, jener
Grundwissen-schaft aller Wissenschaften, da!
[2]
Doch Rosa Mayreder zeigt sich in ihren
Briefen noch von einer ganz anderen Entdeckung am philosophischen
Fundamentalwerk Rudolf Steiners berührt. Deutlich empfand sie daran
die vielleicht zunächst überraschende Tatsache, wie sich durch eine
„auf die letzten Elemente zurückgehende Analyse des Erkenntnisaktes“ (R.St.),
die den zentralen Inhalt jener Schrift ausmacht, unmittelbar auch
schon eine Idee und vollkommene Rechtfertigung des Freiheitswesens im
Menschen ergibt.
Da es ihr sehr auf diese Seite der
philosophischen Leistung Rudolf Steiners ankam, schrieb sie ihm:
„Für Ihre spezifische
Geistesleistung, für dasjenige, wodurch Sie sich von allen anderen
Denkern der naturwissenschaftlichen Ära auszeich-nen, halte ich Ihre
Betonung der menschlichen Freiheit und das neue Fundament, welches
Sie derselben gegeben haben.“
So wurde von Einzelnen schon im letzten
Jahrhundert Rudolf Steiners philoso-phische Leistung und Intention
richtig gesehen. Der große Rest der Zeitgenossen hatte dafür aber
keinen rechten Sinn. Dort konnte man, Rudolf Steiners aller einleuchtendsten Argumentationen zum Trotz, noch nicht verstehen,
welch fundamentale Bedeutung die gebotene „Analyse des
Erkenntnisaktes“ für das Selbstverständnis der Wissenschaften
schlechthin hat, noch, welche Bedeutung dieser Analyse in der Frage
nach der Freiheit zukommt.
Mit klarem Blick auf die von ihm
erwartete Verständnislosigkeit seiner Zeit schrieb Rudolf Steiner
daher schon in der „Vorrede“ zu seiner erkenntnis-wissenschaftlichen
Fundamentalschrift:
„Was den Wissenschaften erst den wahren
Wert verleiht, ist die philosophische Darlegung der menschlichen
Bedeutung ihrer Resultate (Jede Erkenntnis ist eine Eroberung im
Gebiete der Freiheit - sagt R.St.). Einen Beitrag zu dieser Darlegung
wollte ich liefern. Aber vielleicht verlangt die Wissenschaft der
Gegenwart gar nicht nach ihrer philosophischen Rechtfertigung! Dann
ist zweierlei gewiss: erstens, dass ich eine unnötige Schrift
geliefert habe, zweitens, dass die moderne Gelehrsamkeit im Trüben
fischt und nicht weiß, was sie will.“
Eine Erkenntniswissenschaft als
„philosophische Fundamentalwissenschaft aller Wissenschaften“ und als
„Grundwissenschaft zur Freiheit“ hat sich auch 100 Jahre nach dem
Erscheinen der besagten Schrift NICHT etabliert. An den Universitäten
wird noch tüchtigst „im Trüben gefischt“. Was wäre dort
Erkenntniswissenschaft bestenfalls mehr als ein alleräußerstes
Randgebiet einer „Philosophie“, die ihrer-seits wieder nur ein
äußerstes Randgebiet für „Sonntagsredner“ und „Sonntags-denker“ im
ansonsten so sehr „gewichtigen und strengen Forschungsalltag“ ist. Im
Zentrum dort steht die Physik (daran anschließend die Biologie usf.).
Aber nicht einmal die bezeichnete
„Außenseiterrolle“ kann der Erkenntnis-wissenschaft bei genauerem
Hinblicken zugesprochen werden. Tatsächlich wird an den Universitäten
von „Erkenntnis-WISSENSCHAFT“ NIRGENDS gesprochen. Es fehlt gänzlich
jede Vorstellung von der Sache! Es wird der universitäre Bereich, der
dem erforderlichen Sachverhalt am nächsten liegt, statt dessen
„Erkenntnis-THEORIE“ genannt. Und dort wird, statt frisch das Erkennen
zu erforschen, teils historisierend um einige abgelebte „Theorien“
über das Erkennen gestritten, teils werden dort „Grenzen“,
„Möglichkeiten“ und „Formen“ des Erkennens theoretisch und spekulativ
hergeleitet - statt sie in der unbefangenen Beobachtung des Erkennens
zu entdecken!
Insgesamt geht man in diesem Bereich
heute noch so vor, wie im verfallenden Mittelalter jene Gelehrten, die
darum stritten, ob ein Wurm aus Elternwürmern hervorgehe, oder ob er
schon entstünde, wenn nur genügend Schlamm vorhanden ist - die
erbittert darum stritten ohne sich gedrungen zu sehen, bei Wurm und
Schlamm einmal nachzuforschen.
[3]
So wird versäumt, das wissenschaftliche
Leben aus einem Durchschauen der wirklichen seelisch-geistigen
Gegebenheiten und Erfordernisse des Menschen zu gestalten. Das
wissenschaftliche Leben verliert dadurch seine gesunde Beziehung zum
elementaren Erkenntnisbedürfnis und zu der ebenso elementaren
Erkenntnis-fähigkeit der individuellen Menschenseele, tritt in
erkünstelten Formen auf, lenkt das Denken und Beobachten in schiefe
Bahnen - und das aus solchem „Forschen“ gehobene Weltbild VERSTELLT
den Blick für die Wirklichkeit, anstatt sie zu erklären.
Nun kann man sich ja mit dem Gedanken
beruhigen, dass ein Scheitern der Wis-senschaft, wie es von einem
vorurteilslosen Empfinden ohne weiteres zu konstatieren ist, so
schlimme Folgen nicht habe. Man sehe doch, wie in jedem Lebensgebiet -
man schaue nur etwa in die Medizin - „Bewegungen“, Methoden entstehen
und Erkenntnisse in die Welt kommen, welche die einseitige Auffassung
der Wissenschaft ausgleichen (Homöopathie, Akupunktur, Geistheilung,
Bachblüten-Therapie usw.) - und so träte überall AUSGLEICHENDES der
einseitigen wissen-schaftlichen Weltauffassung gegenüber ins Leben.
So richtig dies ist, so richtig ist
auch, dass damit das Problem der Welt-ERKLÄRUNG keineswegs gelöst
ist. Gerade, wer aus dem Empfinden der dogmatischen Einseitigkeit
gewöhnlicher Wissenschaft die „ausgleichenden" Methoden und
Erkenntnisse ebenfalls gelten lassen will, muss, wenn er auf sein
Weltbild schaut, zugeben, dass er von einem wirklichen BEGREIFEN
der Welt äonenweit entfernt ist. Nur ein Splittergebilde von
verschiedensten „Weltanschauungen“ und Vorstel-lungen, eine Vielzahl
verschiedenster relativer „Wahrheiten“, die überdies auf die
verschiedensten Weisen hervorgebracht sind, hat er vor sich – DIE
Wahrheit aber ist ihm verborgen.
Einer dogmatischen „Wissenschaft“
gegenüber, die es zu einseitigen „Gewissheiten“ bringt, führen so die
„alternativen Weltanschauungen“ zum seelen- und geist-erweichenden
Relativismus hin. Und die geistige Grundempfindung jener, die Opfer
dieses Relativismus geworden sind, reicht von der Hoffnungslosigkeit,
die tieferen Geheimnisse der Welt wirklich erforschen zu können, bis
zum festen Abscheu, es überhaupt noch zu wollen.
So bringen eine dogmatisierte
Wissenschaft zwar ein festgezimmertes, aber illusionäres Weltbild -
und die sogenannten „alternativen Weltanschauungen“ das stille
Eingeständnis, eigentlich überhaupt nicht wirklich etwas von der Welt
erkennen zu können, für den Menschen herauf. Die Welt wird zur
stillen, großen Unbekannten, die ich nicht begreifen kann, in der zu
leben und in die hinein zu han-deln ein unabschätzbares Wagnis ist -
ein aufgezwungenes, ungewolltes Glücksspiel mit dem Einsatz der ganzen
Existenz.
Demgegenüber steht - wie unerlöst - die
brennende Sehnsucht des Menschen, der eine wahre Erkenntnis der
Weltzusammenhänge sucht, einfach, damit ihm die Welt in ihrem Was, Wie
und Warum durchschaubar wird und er in ihr ein einschätzbares, selbstbestimmtes Leben aus der Erkenntnis der Welt-zusammenhänge und
-erfordernisse führen kann ...
In schöner Weise ist dieses Ideal durch
Christian Morgenstern in Worte gefasst:
Gib mir den Anblick deines Seins, oh
Welt...
Den Sinnenschein lass langsam mich
durchdringen...
So wie ein Haus sich nach und nach
erhellt,
bis es des Tages Strahlen ganz
durchschwingen -
und so, wie wenn dies Haus dem
Himmelsglanz
noch Dach und Wand zum Opfer könnte
bringen -
dass es zuletzt, von goldner Fülle
ganz
durchströmt, als wie ein
Geisterbauwerk stände,
gleich einer geistdurchleuchteten
Monstranz:
So möchte auch die Starrheit meiner
Wände
sich lösen, dass dein volles Sein in
mein,
mein volles Sein in dein Sein Einlass
findet -
und so sich rein vereinet Sein mit
Sein.
Dem Menschen den Weg zu eröffnen, sich
zu erfüllen, was in dieser Sehnsucht lebt: das ist die Aufgabe der
„Erkenntniswissenschaft“: Durch sie entdeckt man, wie aus der
ureigensten Veranlagung heraus sich der Weg ergibt, der einen immer
tiefere und bedeutendere Erlebnisse und Erkenntnisse am Weltwesen
haben lässt - Erlebnisse und Erkenntnisse, die einem die Welt
vertraut machen, durch und durch, und einem so die Basis schaffen,
sich als freier Mensch in ihr zu erleben.
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Ob es nun recht ist, in dieser Art in
einer Zeitschrift, die ja neben Kant, worauf in früheren Artikeln
schon hingewiesen wurde, auch beinahe schon den Steiner im Namen führt
(Anm.: Die Zeitschrift hieß „Kantstein“) und die ein Stein des
Anstoßes sein will zum Umdenken in vielen Bereichen des Lebens, über
eines der Grundprobleme des wissenschaftlichen Lebens der Gegenwart zu
berichten, das mag das Interesse im Leser entscheiden. Eigentlich bin
ich nur eingeladen worden, über „Naturwissenschaft“ zu schreiben. Da
im Rahmen des Gesagten das Problem der Naturwissenschaft aber
mit-aufleuchtet, denke ich, es mag eine generellere Auseinandersetzung
mit den Grundlagen allen Wissenschaftens da einmal hingenommen werden.
Selbstverständlich fehlt auch derjenigen „Naturwissenschaft“, welche
derzeit an Universitäten und Wirtschaftsinstituten betrieben wird,
eine wahrhafte Erkenntnis-wissenschaft in ihrem Zentrum. Auf äußere
Erfolge gerichtet kann und will sie gar nicht in einem wirklich
vorhandenen Erkenntnisbedürfnis der individuellen Menschenseele
gründen. Was es für den Menschen selbst bedeutet, wenn ihm die
zunächst fremde Welt sich erschließt und er sehend wird für ihre
tieferen und tiefsten Geheimnisse, welche Stellung er in ihr (der
Welt) dadurch erlangt, das ist dieser Wissenschaft völlig fremd.
Lieber umstellt sie uns mit gut funktionierenden Computern, bietet uns
zweifelhafte Mittel zur Krebstherapie oder leichtfüßige Antworten über
Weltentwicklung oder Weltensinn usw. an, als dass sie den großen, ihr
eigentlich innewohnenden Auftrag der Entwicklung der Innersten, zur
Selb-ständigkeit aus Selbst- und Welterkenntnis drängenden
Menschennatur aufgreift und ihr Wesen im Lichte dieses Auftrags
bestimmt.
Mit wahrhaftiger Erkenntniswissenschaft
in ihrem Zentrum könnte sie diesen Auftrag ergreifen! Denn, das
Erkennen begreifen heißt: eine Anschauung und ein Wissen über die
Bedingungen zu bekommen die einen zu einem tieferen/allertiefsten
Selbst- und Welterlebnis führen können. Und das Wissen um diese
Bedingungen zieht - wie selbstverständlich - die Selbsterziehung zur
Verwirklichung dieser Bedingungen im eigenen Seelenleben nach sich; so
dass durch eine wahrhaft betriebene Erkenntniswissenschaft dem
Menschen nicht nur ein „Wissen“, sondern damit zugleich Anstoß und
Mittel zur Erweckung der ureigensten Erkenntnis-Veranlagung zukommen.
Nicht nur eine Schulung des Genies in
jedem Menschen sondern ein ungeheurer Anstoß echten, bedeutenden
naturwissenschaftlichen Forschens und Entdeckens würde von einem
sachgemäßen Aufgreifen der Erkenntniswissenschaft ausgehen. Die
„Wissenschaften“ würden nicht mehr ein anonymisiertes Dasein an
Universitäten und Wirtschaftsinstituten führen sondern:
erweiterte Wahrnehmungsorgane
JEDES zum
naturwissenschaftlichen Geist erwachten Einzelmenschen sein. Und eine
solcherart „gebildete“ Menschheit könnte gar nicht anders, denn, als
vollbewusstes Glied der Weltenordnung, im Zusammenklang mit sich und
Welt zu leben.
Erkennet Euch selbst
bis zum Grunde
und dann werdet, die Ihr eurer
Veranlagung nach seid –
das spricht uns aus dem Ideale der
Erkenntniswissenschaft
in tiefstem Sinne an.
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Die besprochene Schrift Rudolf Steiners
ist:
„Wahrheit und Wissenschaft - Vorspiel
einer Philosophie der Freiheit“
©: Alle Rechte für diesen Aufsatz beim
Autor
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