Dorothee
Schulte-Basta (DSB):
Ralph, du hast jetzt den Brief
Die Würde des Menschen ist unantastbar – Brandbrief eines
entschiedenen Bürgers an
Frau Merkel, Herrn Wulff und Frau von der Leyen geschickt
und wirst demnächst damit auch im Jobcenter aufkreuzen.
Was versprichst du dir von der Aktion?
Ralph Boes
(RB): Die wichtigste
Erwartung, die ich habe, ist, dass die Grundrechte wieder
die ihnen angemessene Bedeutung erhalten. Vor allem der
Satz: „Die Menschenwürde ist unantastbar“. Das war ein
wichtiger Moment für mich, als ich begriffen habe, wie
sehr dieser Satz Grundlage der gesamten Rechtsprechung in
Deutschland sein soll. Nicht nur, dass er den Grundstein
unserer Verfassung darstellt und die ganze übrige
Verfassung gewissermaßen von ihm abgeleitet ist, sondern:
Jedes Gesetz soll eigentlich von ihm hergeleitet
und letztlich durch ihn begründet sein. Als ich das
begriffen habe, hatte ich das Gefühl: Jetzt kann ich stolz
sein, ein Deutscher zu sein. Alle anderen Begriffe des
Deutschseins sind mir sehr fremd – aber dieses: Die
Menschenwürde unbedingt zu achten und zu schützen –,
das gibt dem deutschen Staat selbst eine gewisse Würde, in
der ich mich gut „beheimatet“ fühlen kann.
Andererseits habe ich da
allerdings auch empfunden, wie weit sich der deutsche
Staat von seinen ursprünglichen Idealen entfernt hat.
Besonders deutlich sieht man das ja an Hartz IV, aber auch
natürlich auf vielen anderen Gebieten. Und da mit meinen
Kräften mitzuwirken, dass die Dinge wieder in Ordnung
kommen, das ist eigentlich schon alles, was ich will.
DSB:
Wie willst du das machen?
RB:
Ich selbst bin Bezieher von Hartz IV. Ich habe jetzt
diesen „Brandbrief“ geschrieben, durch den ich mich
freiwillig in die Schusslinie aller Sanktionen stelle, die
das Hartz-IV-System grundgesetzwidrig zur Verfügung
stellt. So werde ich zwar ein ziemlich beschwerliches
Leben führen in der nächsten Zeit, da ich da ja massiv von
Hunger und von Obdachlosigkeit bedroht sein werde, aber
ich kann gerade deshalb in Karlsruhe klagen.
DSB:
Geht es dir wirklich nur um das Grundgesetz und die
Menschenrechte? Oder ist es nicht auch so, dass du mit der
Aktion das bedingungslose Grundeinkommen befördern willst?
RB:
In erster Linie zielt die Aktion auf die bedingungslose
Wiederherstellung der Grundrechte. Durch das heutige
Hartz-IV-System sind Artikel 1 (Menschenwürde), Artikel 2
(freie Entfaltung der Persönlichkeit), Artikel 6 (Schutz
der Familie), Artikel 11 (Freizügigkeit im Bundesgebiet),
Artikel 12 (freie Berufswahl /Verbot von Zwangsarbeit),
Artikel 13 (Unverletzlichkeit der Wohnung) und Artikel 19
(Zitiergebot) – das sind sieben der 19 Grundrechtsartikel
des Grundgesetzes – außer Kraft gesetzt, wesentlich
verkürzt oder sogar in ihr Gegenteil verkehrt worden, mit
unglaublich destruktiven Folgen für die gesamte
Gesellschaft. Da ist an und für sich schon dringender
Handlungsbedarf. Ich denke aber, dass das Grundeinkommen
ein äußerst smartes Mittel ist, den Grundrechten
wieder volle Geltung zu verschaffen.
DSB:
Gab es schon Reaktionen? Wenn ja, welche?
RB:
Die Reaktionen, die mich erreichen, sind durchweg positiv.
Ich habe mich auf diese Aktion ja schon lange innerlich
vorbereitet und sie in vielen Vorträgen auch schon
ausgesprochen … und alle, die sie verstanden haben, haben
ihr von Herzen zugestimmt. Es gibt allerdings Menschen,
die sie noch nicht verstehen, und von denen gibt es auch
Kritik.
DSB:
Welche?
RB:
Zum Beispiel, dass ich über das Bundesverfassungsgericht
das bedingungslose Grundeinkommen erzwingen wolle. Das
bedingungslose Grundeinkommen für ein Volk zu
erzwingen käme allerdings einer Entmündigung gleich –
nicht nur Einzelner oder von Gruppen, wie das heute
geschieht, sondern des ganzen Volkes. Das wäre schlimm. Es
geht um die Wiedereinsetzung der Grundrechte; und wie
gesagt, ich halte das bedingungslose Grundeinkommen nur
für eine äußerst smarte Möglichkeit dazu. Wenn jemand was
Besseres hat, dann soll er’s zeigen.
DSB:
Was antwortest du jenen, die deiner Aktion skeptisch
gegenüber stehen, weil sie die Herleitung oder die
Verquickung des Grundeinkommens aus oder mit Hartz IV
nicht teilen?
RB:
Ich gebe ihnen in der Sache Recht. Bedingungsloses
Grundeinkommen hat mit Hartz IV wirklich nicht viel zu
tun, ist kein Hilfsmittel für Bedürftige, erst recht kein
den Menschen aufgezwungenes sinnloses
Beschäftigungs-programm, sondern die Basis zur Freiheit
für jeden Menschen. Dass man sie beide gemeinsam
nennt, ist deshalb eigentlich nicht statthaft. Es ist wie
bei Schneebesen und Löffel. Die haben zunächst auch nicht
viel gemeinsam. Wenn aber jemand mit dem Schneebesen Suppe
zu essen versucht und man reicht ihm statt dessen den
Löffel, dann stellt sich durch die zunächst gegebene
Fehlhandlung der Zusammenhang zwischen Schneebesen
und Löffel her.
DSB:
Du meinst, Hartz IV ist der Schneebesen?
RB:
Ja: ein völlig falsches Mittel, um mit den
Herausforderungen von Industrialisierung und
Globalisierung zurecht zu kommen. Das muss man aber in dem
Brandbrief selbst nachlesen.
DSB:
Welche Befürchtungen hast du?
RB:
Zunächst, dass man von irgendeiner Seite her ungeduldig
wird oder sogar die bestehende angespannte Situation im
sozialen Leben der Gegenwart ausnutzt, um irgendeine
„Revolution“ zu machen. Ich liebe Gespräche, auch scharfe
Auseinandersetzungen, wenn sie ernsthaft geführt
werden, den Gegner achten und auf gemeinsame
Resultate zielen. Und ich fürchte Revolutionen, wegen
des Leids und ihres unvorhersehbaren Endes. Am Ende der
Französischen Revolution stand Napoleon – das war so
ungefähr das Gegenteil von dem, was man ursprünglich
wollte. Und was am Ende der Revolutionen in Afrika steht,
ist ja ebenfalls mehr als ungewiss.
DSB:
Gibt es auch Befürchtungen, die du um dich selber hast?
Und um den Verlauf dieser Aktion?
RB:
Ja klar, viele, aber die hier auszubreiten, wäre falsch.
DSB:
Wovon wirst du leben, wenn du dauerhaft, unter Umständen
jahrelang sanktioniert wirst?
RB:
Zunächst natürlich von den Lebensmitteln, welche mir trotz
aller Sanktionierungen zur Verfügung gestellt werden – und
zwar vom Jobcenter, dafür werde ich sorgen. Wir haben uns
diesbezüglich schon schöne Aktionen ausgedacht.
Im Grunde werde ich aber
vom Sinn dieser Aktion leben. Dieser Sinn stellt
etwas wie „geistige Nahrung“ dar und lässt einen die
Strapazen anders bewerten, als man sie bewerten würde,
wenn man Sanktionen nur aufgedrückt bekommt. Das
ist wie beim Bergsteigen: Ein Bergsteiger nimmt ja
Strapazen in Kauf, von denen andere schnell überfordert
wären, und er wäre sogar beleidigt, wenn man sie ihm
ersparen wollte.
Dass ich allerdings
jahrelang sanktioniert werde, das glaube ich nicht.
Ich meine: Die Sache erlangt ja doch eine gewisse
Öffentlichkeit, und wie will Frau Merkel weiter guten
Gewissens in China die Menschenrechte einfordern, wenn man
sie hier in Deutschland so mit Füßen tritt? Weiters gibt
es inzwischen unglaublich viele Menschen und Verbände, die
das Unrecht und Entwürdigungspotential der
Hartz-IV-Gesetze begriffen haben. Ich denke nicht, dass
das System noch lange hält.
DSB:
Was ist mit Leuten, die sich auf deine vielleicht mögliche
Nichtsanktionierung berufen und dann sanktioniert werden?
RB:
Wenn ich nicht sanktioniert würde, müsste das Amt
bedeutende Gründe für die Nicht-Sanktionierung
anführen. Bei der Öffentlichkeit, die ich herstelle, wird
es ein Herummunkeln im Hinterzimmer nicht geben. Man
müsste richtige Gründe anführen, wenn man mich
nicht sanktionieren will – und die würden dann
für alle gelten.
Zweitens gilt natürlich,
dass jeder für sich selbst verantwortlich ist. Ich habe
nicht, wie das heute öfter geschieht, irgendwie zum
Aufruhr aufgerufen, sondern nur öffentlich meine ganz
persönlichen Konsequenzen aus den Verhältnissen gezogen.
Wenn jemand etwas ähnliches
versuchen möchte – und es gibt heute schon etliche
Beispiele von Menschen, die in größter Ruhe und mit einem
Mut, der absolut unglaublich ist, ihre Freiheit ganz im
Stillen durchkämpfen –, dann muss er das selbst
verantworten können und das Risiko selbst tragen. Und vor
allem muss er sehen, dass er nicht andere in die Probleme
mit hineinreißt. Wer z.B. in einer Bedarfsgemeinschaft
lebt, sollte so etwas nicht versuchen – das verbietet die
familiäre Solidarität, weil die Sanktionierung einer
Person in Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaften ja –
unrechtmäßiger Weise wie vieles in Hartz IV – eindeutig
wie Sippenhaft wirkt. Er sollte den Wandel auf
andere Weise stützen, z.B. indem er sich politisch
betätigt, demonstriert, Vorträge zum Hartz-IV-System
organisiert usf., aber ohne seine Lebensgrundlage und die
seiner Mitbewohner zu gefährden. Man darf nicht anderen
den Stress aufzwingen, den man selbst vielleicht zu tragen
bereit ist. Und es ist auch Schicksal, das unbedingt
beachtet werden muss, wie man in einer bestimmten
Situation handeln – oder manchmal auch nicht
handeln – kann.
DSB:
Was ist mit Telefon, Zeitung, Kino? Wirst du ganz darauf
verzichten?
RB:
Zeitung und Kino sind schon lange nicht mehr drin. Telefon
und Internet sind aber wichtig. Den Zugang zu Telefon und
Internet wird mir die
BbG
zur Verfügung stellen in der ich starke Unterstützung
habe.
DSB:
Sind die von dir Angeschriebenen als Wächter der Würde die
richtigen Adressaten?
RB:
Nein. Die echten Wächter sind wir selbst, als Bürger. Des
Weiteren die Richter in Karlsruhe. Zu denen hin wird durch
die Sanktionierung demnächst ein dickes Gummiband
gespannt. Wulff, Merkel, von der Leyen sind nur die
Repräsentanten eines Staates, der sein eigenes Grundgesetz
vergessen hat – und die daran erinnert werden
müssen.
DSB:
Was nutzt es, diese Repräsentanten daran zu erinnern, wenn
doch offensichtlich die Mehrheit der Menschen hierzulande
keinen Änderungs-bedarf sieht?
RB:
Dann muss man auch die Mehrheit an das Grundgesetz
erinnern.
DSB:
Gibt es andere Formen des Widerstandes gegen Hartz IV, die
einzelne oder Gruppen ergreifen können?
RB:
Ich habe eine E-Mail bekommen, in der jemand schreibt:
„Jetzt, nachdem ich Ihren Brief in der Hand halte, kann
das Amt mich nicht mehr übertölpeln. Alle Gründe, zu
widerstehen, haben Sie mir in die Hand gelegt.“ … Ein
anderer hat den Brief gleich als wichtigstes Dokument
seiner Weigerung, die sog. „Eingliederungsvereinbarung“ zu
unterschreiben, beigefügt. So gibt es inzwischen viele
Rückmeldungen. Wieder ein anderer hat mir berichtet, dass
er schon lange mit dem Amt um die grundgesetzlich
garantierten Freiheitsrechte ringt und dass das Amt
vielleicht auf eine Sanktion verzichten würde. Der ist
sogar so mutig, dass er schreibt, dass er es in Zukunft
unterlasse, zu den geforderten Terminen zu erscheinen …
Persönlicher Mut
ist sicherlich das entscheidende Moment. Und tief geübte
Wahrhaftigkeit. „Durch Deutschland muss ein Ruck
gehen“ hat der eine Bundespräsident gesagt und der
andere forderte „Zivilcourage“. Mal sehen, was
der jetzige sagt, wenn der Ruck und die Zivilcourage
kommen.
Es gibt natürlich auch
wichtige politische Mittel: die permanente
Bewusstseinsbildung, die durch etliche Einzelpersonen,
Gruppen und Verbände geleistet wird, die unermüdlich
Fallbeispiele sammeln und kommentieren und vielfach auch
Betroffenen helfen; Bündnisse von Rechtsanwälten gegen
Hartz IV; Stellungnahmen von Verfassungs-rechtlern; das
Sanktionsmoratorium, in dem ein großes, partei- und
gesellschafts-übergreifendes Bündnis zum Überdenken der
Sanktionen hergestellt wurde; Petitionen gegen die
Sanktionen, wie z.B. Herr Niehaus und ich sie geschrieben
haben; die Proteste von Gewerkschaften, das Eintreten der
Linken und der Grünen für einen Stopp der Sanktionen usw.
usf. Die gesellschaftliche Ächtung der Sanktionen ist
wichtig und sie wächst jetzt überall.
DSB:
Warum sollte man den Brief unterschreiben?
RB:
Weil es mir gut tut und mich stärkt! Weil es
den Unterzeichnern gut tut, eine solche Sache
unterstützen zu können! Und weil die Sache durch
die Unterzeichnung ein stärkeres politisches Gewicht
erhält! Die Unterzeichnung ist etwas wie eine
Gemeinschaftsbildung und in dieser Beziehung wichtig.
Es sind übrigens sehr viele nicht Hartz
IV-Bezieher, selbst reiche Menschen und selbst
Staatsbeamte, die den Brief unterschreiben; Bürger, die
über die sozialen Verhältnisse, die ja das gesamte
gesellschaftliche Klima vergiften, entsetzt sind und das
Gemeinwohl in Gefahr sehen. Ich erhalte sehr viele
E-Mails, die das zeigen. Es sind natürlich auch
Hartz-IV’ler, die da unterschreiben. Und mancher tut dies
trotz seiner Angst, dafür sanktioniert zu werden.
Dem gegenüber kann ich aber sagen, dass solche Befürchtung
ganz unbegründet ist: Das Recht auf freie Meinungsäußerung
ist durch Hartz IV noch nicht genommen. Aber es lässt tief
blicken in die Erlebnisse, die die Menschen mit den Ämtern
haben, dass solche Befürchtungen vorhanden sind.
DSB:
Ein besorgter Mitdenkender lässt fragen, ob du Geldgeber
hast, um einen guten Anwalt und gute Gutachter zu
finanzieren, wenn du gegen die Sanktionen klagst.
RB:
Es gibt keine Geldgeber. Das gilt sowohl für meine
persönlichen Lebensbedürfnisse als auch für einen Anwalt.
Und auch ein Gutachter oder Rechtsanwalt, der sich
irgendwie für uns interessieren würde, ist noch nicht da.
Ich kann nur hoffen, dass ein bedeutender Fall
zur rechten Zeit schon die richtigen Hilfen anzieht, die
er braucht. Ich selbst will darauf achten, dass der Fall
bedeutend, ein ehrliches Anliegen beinhaltend
und einleuchtend ist.
DSB:
Weiter wurde ich gefragt, ob dir klar ist, dass ein
Verfahren gegen Sanktionen bei unserer konservativen
Rechtsprechung voll in die Hosen gehen könne – und zwar
mit dauerhafter Wirkung?
RB:
Das Wort „konservativ“ ist falsch. Eine „konservative“
Rechtsprechung würde die Menschenrechte und die
Grundgesetze achten! In diesem Sinne ist die Linke um
Katja Kipping heute wohltuend konservativer als selbst die
„konservativste“ CSU.
Ansonsten: Die Befürchtung
ist verständlich, aber dass Dinge „in die Hose gehen“
können, ist der normale Weg des Lernens, von dem man sich
nicht schrecken lassen darf, denn solche Befürchtungen
spielen nur den Gegnern in die Hand.
Zudem darf man sich nicht
vom Ende blenden lassen. Denn, wie überall, heißt es auch
hier: Der Weg ist das Ziel. Man schaue auf
Gandhi: Das Ende seiner Bemühungen war durchaus
nicht so, wie er es erhoffte. Aber die Jahrzehnte, die er
wirkte, haben dem Volk die Würde wiedergegeben, die ihnen
von den Engländern genommen worden war – und zwar vom
ersten Tag der Auseinandersetzung an!
In dem Moment, wo du dich
furchtlos selbst ergreifst, ist deine Würde da – sie muss
nicht dem Gegner abgerungen werden, sondern nur
der eigenen Angst und Bequemlichkeit. Und der Gegner kann
höchstens seine eigene Würde verlieren, wenn er
dann mit Zwangsmaßnahmen auf dich drischt.