Antrag


Antrag auf Richtervorlage

zur Überprüfung der Vereinbarkeit der Sanktionsparagraphen in SGB II mit dem Grundgesetz


 

 

Achtung:

 


 

 

ANTRAG
 

[Bitte noch Absenderadresse (ggf. RA) + Anschrift des Gerichts + Aktenzeichen des Verfahrens + Ort, Datum einfügen!]

 

 

Im sozialgerichtlichen Verfahren

 

der/des [Auswahl treffen!]

[Name einfügen!]

- Klägerin/Kläger [Auswahl treffen!] -

 

gegen

[Name Jobcenter bzw. Träger einfügen, s. Rechtsmittelbelehrung im Bescheid]

- Beklagte/Beklagter [Auswahl nach offizieller Bezeichnung des jeweiligen Jobcenters treffen!] -

 

wegen: Sanktionsbescheid gemäß § 31a Abs. 1 SGB II, § 32 SGB II [Bitte nur im Falle eines zusätzlichen Meldeversäumnisses § 32 mit aufführen!]

 

beantrage ich:

 

  1. Das Verfahren wird gemäß Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG ausgesetzt.

  1. Dem Bundesverfassungsgericht wird folgende Frage zur Entscheidung vorgelegt:
     

Sind die § 31a i. V. m. § 31 und § 31b SGB II sowie § 32 SGB II [Bitte nur im Falle eines zusätzlichen Meldeversäumnisses § 32 mit aufführen!] (in der Fassung des Zweiten Sozialgesetzbuches vom Sozialgesetzbuch vom 24. März 2011, BGBl. I vom 29.3.2011, S. 453) mit dem Grundgesetz vereinbar, insbesondere mit dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, das sich aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG ergibt, sowie mit Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 S. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG [Bei Über-25-Jährigen bitte Art. 3 entfernen!] ?

BEGRÜNDUNG:

 

 

I.

Sachverhalt

An dieser Stelle bitte kurz und sachlich den konkreten Sachverhalt inkl. Vorgeschichte und der vorgeworfenen „Pflichtverletzung“ beschreiben.]

 

II.

Rechtsausführungen

Der Rechtsstreit ist gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG i. V. m. §§ 13 Nr. 11, 80 BVerfGG auszusetzen, und es ist eine Entscheidung des BVerfG darüber einzuholen, ob § 31a i. V. m. § 31 und § 31b sowie § 32 [ggf. § 32 streichen!] SGB II gültig sind oder wegen eines Verstoßes gegen das Grundgesetz nicht angewendet werden dürfen.

Das Bundesverfassungsgericht hat in jüngster Zeit bereits zweimal Gesetze, die von ihrer gesetzgeberischen Intention her der Zusicherung des menschenwürdigen Existenzminimums dienen sollten, aufgrund ihrer Unvereinbarkeit mit dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum für verfassungswidrig erklärt:

BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010 („Regelsatz-Entscheidung“),

BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012 („Entscheidung zu Leistungen im AsylbLG“).

Derzeit ist erneut ein Vorlageverfahren bezüglich der Regelbedarfshöhe nach §§ 20 ff. SGB II anhängig (SG Berlin, S 55 AS 9238/12 vom 25.4.2012).

Das Bundesverfassungsgericht hat bisher nicht über die Verfassungsmäßigkeit von Leistungskürzungen nach §§ 31 ff. SGB II entschieden. Dies trifft auf die alte und neue Fassung dieser Vorschriften und ebenfalls auf die Vorgängervorschrift des § 25 BSHG zu.

Das Bundesverfassungsgericht hat sich in seiner Entscheidung vom 9.2.2010 lediglich mit der sogenannten Ansparkonzeption des Gesetzgebers auseinander gesetzt:

BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 150.

Bei diesem in § 24 Abs. 1 SGB II (entspricht § 23 a. F. SGB II) i. V. m. § 42a Abs. 2 S. 1 SGB II etablierten Modell kommt es aufgrund der Rückzahlung eines Darlehens vorübergehend zu einer um 10 % verminderten Auszahlung des nach § 20 SGB II gewährten Regelbedarfs. Es handelt sich dabei jedoch nur um eine aufrechnungsbedingte Verschiebung, d. h. zeitversetzte Auszahlung der laufenden Leistung, nicht hingegen um ihre absolute Verkürzung. Durch die „Ansparkonzeption“ wird über einen bestimmten Zeitraum eine verminderte Leistung ausgezahlt, weil es zu einem früheren Zeitpunkt zur Auszahlung eines höheren (Darlehens-)Betrages gekommen ist. Durch die gleichsam „vorgeschossene“ Leistung besteht für die Betroffenen die Möglichkeit eines „internen Ausgleichs“.

Sanktionen nach § 31a SGB II und § 32 [ggf. § 32 streichen!] SGB II hingegen stellen eine absolute Kürzung der Regelleistung dar, bei der es gerade keine Möglichkeit zum Ausgleich gibt.

Das Bundesverfassungsgericht hat 1987 die kurzzeitige prozentuale Kürzung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld aufgrund eines Meldeversäumnisses für unzulässig gehalten:

„Soweit ein Arbeitsloser aus Unerfahrenheit, Unverständnis für Verwaltungsvorgänge, aus Unachtsamkeit oder anderen Gründen, welche nicht als ,wichtig` i. S. des § 120 I AFG zu qualifizieren sind, seine Meldepflicht nicht einhält, ist die ausnahmslose pauschale Kürzung des Arbeitslosengeldes unzumutbar. [...] Dieser Personenkreis wird jedenfalls gegenüber solchen Arbeitslosen unverhältnismäßig benachteiligt, bei denen eine Säumnis zu keinerlei Kürzungen führt, weil ihnen etwa ein wichtiger Grund i. S. des § 120 I AFG zur Seite steht. Beide Personenkreise unterscheiden sich nicht so erheblich voneinander, daß die beanstandete Regelung vertretbar wäre.“

BVerfG, 10.2.1987 - 1 BvL 15/83, NJW 1987, 1929 f. (1930).

Da das Arbeitslosengeld I im Unterschied zum Arbeitslosengeld II eine Versicherungsleistung und damit vom Eigentumsschutz des Art. 14 Abs. 1 GG umfasst ist, lassen sich zwar aus dieser Entscheidung keine unmittelbaren Rückschlüsse für die verfassungsrechtliche Beurteilung von Leistungskürzungen nach dem SGB II ziehen.

Doch eine Vielzahl von Indizien und verfassungsrechtlichen Annahmen in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 9.2.2010 und vom 18.7.2012, sprechen klar und unmissverständlich für die Verfassungswidrigkeit von Sanktionen nach §§ 31 ff. SGB II.

Die Unterzeichnerin / der Unterzeichner [Auswahl treffen!] verkennt nicht, dass das entscheidende Gericht nicht nur etwaige Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes haben, sondern überzeugt sein muss, dass die maßgebenden Rechtsnormen verfassungswidrig sind und wegen des Verstoßes gegen das Grundgesetz so nicht angewendet werden dürfen. Das Gericht muss in eigener Verantwortung entscheiden und dabei auch eine verfassungskonforme Auslegung für sich ausschließen:

vgl. BVerfGE 68, 337 (344).

Die nachfolgend dargestellten Argumente zielen darauf ab, das Gericht von der Verfassungswidrigkeit der §§ 31 ff. SGB II, insbesondere von der Unvereinbarkeit des § 31a SGB II mit dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG, aber auch mit Art. 12 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG und Art. 3 Abs. 1 GG, zu überzeugen.

 

 

 

1.

Entscheidungserheblichkeit

Eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht ist zulässig, wenn die Endentscheidung des vorlegenden Gerichts von der Gültigkeit eines für verfassungswidrig gehaltenen Gesetzes abhängt.

Vgl. BVerfGE 50, 108 (113).

Das setzt voraus, dass das Gericht sich klar darüber ausspricht, dass und wann es bei Gültigkeit der Norm anders entscheiden würde als bei ihrer Ungültigkeit; denn nur dann kommt es bei der Entscheidung auf die Gültigkeit der Norm an.

Vgl. BVerfGE 11, 330 (334 f.).

Das Bundesverfassungsgericht geht dabei grundsätzlich von der Rechtsansicht des vorlegenden Gerichts aus, sofern dessen Auffassung nicht offensichtlich unvertretbar ist:

vgl. BVerfGE 50, 108 (112).

Die Klärung der Vorlagefrage ist zur Beurteilung des Streitfalles unerlässlich. Eine Entscheidung des Gerichts ohne vorherige Beantwortung der Vorlagefrage scheidet aus, weil sich die Regelungen der §§ 31 ff. SGB II unmittelbar auf die streitgegenständlichen Ansprüche der Klägerin / des Klägers [Auswahl treffen!] auswirken.

Im vorliegenden Rechtsstreit ist fraglich, ob die/der [Auswahl treffen!] Beklagte den Sanktionsbescheid vom [Datum einfügen!] gegen den Kläger / die Klägerin [Auswahl treffen!] erlassen durfte.

§ 31a Abs. 1 i. V. m. § 31 und § 31b SGB II / § 32 SGB II [ggf. § 32 streichen!] ist entscheidungserheblich, da die/der [Auswahl treffen!] Beklagte auf dieser Grundlage den streitgegenständlichen Sanktionsbescheid erlassen hat (a), der Bescheid nicht aus anderen Gründen rechtswidrig bzw. nichtig ist (b) und die Anwendung/Nichtanwendung der maßgeblichen Rechtsnormen zu unterschiedlichen Ergebnissen führen würde (c).

 

 

 

 

a)

 

 

Bescheid auf Grundlage des § 31 a i. V. m. § 31 SGB II / § 32 SGB II [ggf. § 32 streichen!]

Ohne die Gültigkeit der §§ 31 ff. kann ein Sanktionsbescheid nicht rechtmäßig ergehen. Der Sanktionsbescheid wurde von der/dem [Auswahl treffen!] Beklagten auch auf dieser gesetzlichen Grundlage erlassen. In dem Bescheid wird ausdrücklich auf die Rechtsnormen Bezug genommen:

[Bitte ggf. Bezugnahme im Wortlaut des Jobcenter-Bescheids wiedergeben!]

 

     

b)

Keine Rechtswidrigkeit des Bescheids aus anderen Gründen

Die durch die Beklagte / den Beklagten [Auswahl treffen!] erlassene Leistungskürzung nach § 31a SGB II / § 32 SGB II [ggf. § 32 streichen] ist nicht bereits aus anderen Gründen rechtswidrig bzw. nichtig.

Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 31a i. V. m. § 31 Abs. [bitte Absatz je nach vorgeworfener Pflichtverletzung einfügen] und § 32 [ggf. § 32 streichen] SGB II liegen vor.

[An dieser Stelle bitte kurz das vorgeworfene Verhalten unter die entsprechenden Absätze der §§ 31, 31a, 32 SGB II subsumieren!]

 

     

c)

Unterschiedliches Ergebnis im Rechtsstreit

Sofern die Rechtsnormen der §§ 31 ff. SGB II angewendet würden, wäre die Klage abzuweisen. Denn der angefochtene Bescheid der/des [Auswahl treffen!] Beklagten vom [Datum einfügen!] in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom [Datum einfügen!] wäre dann rechtmäßig. Dagegen müsste der Klage stattgegeben werden, wenn die vorgelegten Rechtsnormen aufgrund ihrer Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz nicht angewendet werden dürften. Dann nämlich wäre der Sanktionsbescheid rechtswidrig und die Klägerin / der Kläger [Auswahl treffen!] hätte im streitgegenständlichen Zeitraum einen ungekürzten Anspruch auf Leistungen in Höhe von [regulären Betrag je nach Leistungsbezug eingeben!] nach dem SGB II.

 

 

 

2.

Verfassungswidrigkeit der §§ 31 ff. SGB II

Leistungskürzungen gemäß §§ 31 ff. SGB II verstoßen gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. dem Sozialstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 1 GG (a). Sie verletzen weiterhin die negative Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG (b) und das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG (c). Sanktionen gegen Unter-25-Jährige nach § 31a Abs. 2 SGB II verstoßen darüber hinaus gegen Art. 3 Abs. 1 GG (d). [Den letzten Satz bitte nur bei Sanktionen gegen Unter-25-Jährige verwenden!]

aa

aa

aa

a)

aa

Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG

Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG:

Urteil des Ersten Senats des BVerfG vom 9.2.2010 – 1 BvL 1/09; Urteil des Ersten Senats des BVerfG vom 18.7.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11.

Es handelt sich um ein verfassungsunmittelbares Leistungsgrundrecht:

BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012; Starck, in: Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. Auflage, 2010, Art. 1 Rn. 41; Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: 66. Lieferung 2012, Art. 1, Rn. 121; Hufen, Staatsrecht II, Grundrechte, 3. Auflage 2011, S. 150; Berlit, Minderung der verfügbaren Mittel – Sanktionen und Aufrechnung im SGB II, ZFSH/SGB 2012, 562.

Dieses Grundrecht ist „dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden“,

BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 133.

Es folgt aus Art. 1 Abs. 1 GG und hat

„als Gewährleistungsrecht in seiner Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung.“

BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 133.

Die anspruchsgewährenden Aspekte des Grundrechts ergeben sich aus Art. 1 Abs. 1 GG, wohingegen das Sozialstaatsprinzip einen Gestaltungsauftrag an den Gesetzgeber enthält:

„Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch. Das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG wiederum erteilt dem Gesetzgeber den Auftrag, jedem ein menschenwürdiges Existenzminimum zu sichern, wobei dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum bei den unausweichlichen Wertungen zukommt, die mit der Bestimmung der Höhe des Existenzminimums verbunden sind.“

BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 133.

 

aa) Konkretisierung des Grundrechtsumfangs durch den Gesetzgeber

Das Grundrecht bedarf der

„Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen an den jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten hat. Dabei steht ihm ein Gestaltungsspielraum zu.“

BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Leitsatz 2.

Hierbei ist zu beachten, dass das Bundesverfassungsgericht den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers und das Anpassungserfordernis lediglich auf den konkreten Umfang des Leistungsanspruchs bezieht, wohingegen es den individuellen Anspruch darauf für „unmittelbar“ verfassungsrechtlich erklärt. Der Anspruch ist damit durch den Gesetzgeber von vornherein bloß noch der Höhe nach zu konkretisieren, wohingegen er „dem Grunde nach von der Verfassung vorgegeben“ ist [Hervorh. d. Verf.].

BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 135, 138.

Bei der Ausgestaltung des (verfassungsunmittelbaren) Leistungsanspruchs ist der Gesetzgeber nicht völlig frei. Er hat strenge Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zu erfüllen, die sowohl Form als auch Inhalt der Ausgestaltung betreffen:

„Die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums muss durch einen gesetzlichen Anspruch gesichert sein. Dies verlangt bereits unmittelbar der Schutzgehalt des Art. 1 Abs. 1 GG. Ein Hilfebedürftiger darf nicht auf freiwillige Leistungen des Staates oder Dritter verwiesen werden, deren Erbringung nicht durch ein subjektives Recht des Hilfebedürftigen gewährleistet ist. Die verfassungsrechtliche Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums muss durch ein Parlamentsgesetz erfolgen, das einen konkreten Leistungsanspruch des Bürgers gegenüber dem zuständigen Leistungsträger enthält.“ [Hervorh. d. Verf.]

BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 136.

„Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt.“ [Hervorh. d. Verf.]

BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 137.

„Zur Konkretisierung des Anspruchs hat der Gesetzgeber alle existenznotwendigen Aufwendungen folgerichtig in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf, also realitätsgerecht, zu bemessen […].“ [Hervorh. d. Verf.]

BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 139.

Entscheidend ist demnach, dass der Gesetzgeber „seine Entscheidung an den konkreten Bedarfen der Hilfebedürftigen ausrichtet“:

BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 93.

Der gesetzliche Leistungsanspruch muss sich seiner Höhe nach also an den tatsächlich bestehenden existenznotwendigen Bedarfen orientieren.

Daneben macht das Bundesverfassungsgericht weitere Vorgaben zum Umfang des Leistungsanspruchs. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums umfasst danach nicht nur die physische Existenz des Menschen, sondern auch ein Mindestmaß an soziokultureller Teilhabe am gesellschaftlichen Leben:

vgl. BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 135.

Diese Entscheidung trägt der aktiven Schutzverpflichtung des Staates Rechnung, die den Einzelnen ausgrenzenden Reaktionen der Gesellschaft entgegenzuwirken hat. Das folgt bereits aus der konstituierenden Bedeutung der Menschenwürde gemäß Art. 1 Abs. 1 GG. Hieran ist der Gesetzgeber gebunden, wenn er seinem Ausgestaltungsauftrag bei der Bestimmung des menschenwürdigen Existenzminimums nachkommt. Er muss demnach neben dem physischen Überleben auch die soziale Teilhabe der Hilfebedürftigen sichern:

vgl. BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 137; Starck, in: Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. Auflage, 2010, Art. 1, Rn. 41.

 

bb) Verfassungsgerichtliche Kontrolle des Grundrechts

Sowohl das Ausgestaltungsverfahren durch den Gesetzgeber, als auch der Umfang des Grundrechts unterliegen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle.

Das Bundesverfassungsgericht prüft zunächst, ob der Gesetzgeber „die erforderlichen Tatsachen im Wesentlichen vollständig und zutreffend ermittelt“ hat und ob sich das Berechnungsverfahren nachvollziehen lässt:

BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 143.

Aufgrund eines Verstoßes gegen dieses Verfahren hat das Bundesverfassungsgericht sowohl die alten Regelsätze als auch die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz für verfassungswidrig erklärt. Denn die Leistungshöhe war

„weder nachvollziehbar berechnet worden noch ist eine realitätsgerechte, auf Bedarfe orientierte und insofern aktuell existenzsichernde Berechnung ersichtlich.“ [Hervorh. d. Verf.]

BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 106.

Darüber hinaus nimmt das Bundesverfassungsgericht auch eine Überprüfung der Höhe der zur Deckung des menschenwürdigen Existenzminimums gewährten Leistungen im Wege einer Evidenzkontrolle vor:

vgl. BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 152 ff.; BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 107 ff.

Auf diese Weise hat das Bundesverfassungsgericht zuletzt die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz für verfassungswidrig erklärt und – wie in seiner Entscheidung vom 9.2.2010 bereits bezüglich der Leistungen für einen laufenden besonderen Bedarf – übergangsweise selbst (höhere) Leistungen festgesetzt:

vgl. BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 107 ff., 124 ff.

Für den Regelsatz nach den alten SGB-II-Normen hatte es hingegen eine evidente Unterschreitung nicht festgestellt,

„weil die Regelleistung zur Sicherung der physischen Seite des Existenzminimums zumindest ausreicht und der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der sozialen Seite des Existenzminimums weiter ist.“

BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 152.

Die hier durch das Bundesverfassungsgericht vorgenommene Trennung in ein physisches und soziokulturelles Existenzminimum ist nur in zweierlei Hinsicht von Bedeutung. Zum einen räumt es dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des physischen Existenzminimums einen engeren Gestaltungsspielraum ein als bei der Regelung der soziokulturellen Teilhabe,

vgl. BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 138.

Zum anderen hat das Bundesverfassungsgericht offenbar die Evidenzkontrolle bezüglich des Leistungsumfangs des einheitlichen Grundrechts zum Zeitpunkt seiner „Regelsatz-Entscheidung“ (ggf. mangels anderweitiger Daten) nur am physischen Existenzminimum orientiert:

vgl. BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 152.

 

cc) Einheitliches Grundrecht

Rechtsdogmatisch lässt sich das Gewährleistungsrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum indes nicht in einen (physischen) „Kernbereich“ und einen darüber hinaus gehenden (soziokulturellen) „Randbereich“ aufteilen.

Zu teilweise abweichenden Ansichten in der Literatur s. Anhang.

Vielmehr beinhaltet es eine

einheitliche grundrechtliche Garantie, die sowohl die physische Existenz des Menschen […] als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfasst.“ [Hervorh. d. Verf.]

BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 90.

Der gesetzliche Leistungsanspruch muss „stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers“ [Hervorh. d. Verf.] decken.

BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 137.

Es sind im Übrigen keinerlei Kriterien ersichtlich, nach denen eine Aufteilung oder Differenzierung in „Kern“ und „Randbereich“ des Existenzminimums willkürfrei denkbar wäre und praktisch durch den Gesetzgeber entsprechend zugeteilt werden könnte..

Auf den Umstand der Unteilbarkeit der Leistungen hat die Bundesregierung infolge der „Regelsatz-Entscheidung“ des Bundesverfassungsgerichts vom 9.2.2010 hingewiesen:

„Im Leistungsrecht des SGB II und des SGB XII wird entsprechend ein Regelbedarf anerkannt, der insbesondere Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Haushaltsenergie sowie persönliche Bedürfnisse des täglichen Lebens umfasst. Bei den sich ergebenden Regelbedarfen handelt es sich um die Summen statistisch nachgewiesener durchschnittlicher regelbedarfsrelevanter Verbrauchs-ausgaben. Erbracht werden die Regelbedarfe als monatlicher Pauschalbetrag, der ein monatliches Budget darstellt. In diesem Pauschalbetrag lässt sich naturgemäß eine trennscharfe Unterscheidung von ,physischen` oder ,soziokulturellen` Bedarfen nicht vornehmen. Die Verwendung dieses Betrages liegt zudem in der alleinigen Verantwortung der Leistungsberechtigten. Rückschlüsse darauf, wofür Leistungsberechtigte dieses monatliche Budget ausgeben, sind deshalb nicht möglich. Eine Heranziehung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe zur Bestimmung verschiedener Existenzminima ist daher weder erforderlich noch sinnvoll.“ [Hervorh. d. Verf.]

Bundestags-Drucksache 17/6833, Antwort Kleine Anfrage, S. 4.

Auch das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen ist einer „Aufspaltung“ des Existenzminimums kürzlich entgegen getreten:

„Eine derartige Aufspaltung des Existenzminimums in einen unantastbaren physischen Kernbereich und einen ganz oder teilweise vernachlässigungsfähigen gesellschaftlich-kulturellen Teilhabebereich ist jedoch mit dem einheitlichen Gewährleistungsumfang des Grundrechts unvereinbar. Denn bietet Art. 1 Abs. 1 i.Vm. Art. 20 Abs. 1 GG - so ausdrücklich das BVerfG (vgl. a.a.O. Rn. 90 und 129) - eine einheitliche grundrechtliche Garantie auf die zur Wahrung eines menschenwürdigen Existenzminimums notwendigen materiellen Voraussetzungen, so lässt dies keinen Raum für eine Reduzierung des Grundrechts auf einen Kernbereich der physischen Existenz. Das Minimum für die Existenz bezeichnet vielmehr bereits denklogisch einen nicht unterschreitbaren Kern. Der gesamte Leistungsumfang des Existenzminimums muss somit zugleich sein Mindestinhalt sein (so auch Neskovic/Erdem, Zur Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei Hartz IV - Zugleich eine Kritik am Bundesverfassungsgericht, in SGb 2012, S. 134 ff., 137), der ,in jedem Fall und zu jeder Zeit` gewährleistet sein muss.“ [Herv. d. Verf.]

Landessozialgericht NRW, L 20 AY 153/12 B ER, 24.4.2013, Rn. 55.

 

dd) Ausgestaltung durch §§ 20 ff. SGB II

Der Gesetzgeber hat mit den §§ 20 ff. SGB II, 28 ff. SGB XII eine Bestimmung der Bedarfshöhe vorgenommen. Ausgehend von einer Bedarfsberechnung erkennt er in §§ 20 ff. SGB II pauschalierte Geldleistungen zu:

vgl. Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen nach § 28 SGB XII, insb. § 8 RBEG i. V. m. § 20 Abs. 2-4 SGB II; auch: Hannes in Gagel, SGB II, § 20 Rn. 3.

Dabei ist nicht ersichtlich, dass der Regelsatz des ALG II etwa als Bonussystem ausgestaltet worden wäre, bei dem eine Sanktion lediglich zur Absenkung der Leistungen auf die Höhe des Existenzminimums führen würde, also nur „pflichtwidrig“ handelnde Leistungsbezieher auf das Minimum reduziert würden und alle übrigen Hilfebedürftigen Leistungen erheblich oberhalb dieses Niveaus erhielten.

Eine solche Konstruktion, nach der der reguläre Sozialhilfeanspruch noch um 20 bis 30 % auf die „Höhe des zum Leben Unerlässlichen“, gesenkt werden könnte, wurde von einigen Gerichten bei der Anwendung der früheren Vorschrift des § 25 BSHG angenommen,

z. B. Hess. VGH, 6 S 307/89 vom 4.4.1989, Rn. 5; VGH Ba-Wü, 7 S 1755/99 vom 11.10.1999, Rn. 12,

und findet sich mitunter auch noch in der Kommentarliteratur zum SGB II, indem unterhalb des gesetzlichen Existenzminimums noch ein „Kernbereich“, meist eine Art „physisches Existenzminimum“ konstruiert wird;

näheres dazu s. Anhang.

Dann müsste der volle Regelsatz des Arbeitslosengeldes II nach §§ 20 SGB II über das menschenwürdige Existenzminimum hinausgehen,

vgl. dazu Berlit, ZFSH SGB 10/2012, S. 561 ff. (564).

Gegen die Annahme, der Gesetzgeber habe eine Regelleistung festlegen wollen, die irgendwo (undefiniert und undefinierbar) oberhalb des Existenzminimums angesiedelt ist, spricht jedoch entscheidend die mit der Einführung der Regelbedarfe des SGB II durch den Gesetzgeber vorgenommene Bedarfsberechnung im Sinne einer Festsetzung der für das physische Überleben und die kulturelle Teilhabe unbedingt zu gewährleistenden Bedarfe. Sinn und Zweck der Neufassung der SGB-II-Leistungsnormen war die Erfüllung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts nach einem transparenten Berechnungsverfahren zur Bestimmung der Leistungen zur Sicherung des menschenwürdigen Existenzminimums:

vgl. Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch, S. 1, A. Problem und Ziel; Hannes in Gagel, SGB II, § 20 Rn. 5, 10 ff., 90.

Ausweislich der vorgenommenen Berechnungen, die ihren Niederschlag in den Festsetzungen des Regelbedarfs-Ermittlungsgesetzes gefunden haben, handelt es sich um Bedarfe, die zur Deckung des gesellschaftlich anerkannten Minimums erforderlich sind, also eben so ausreichen (sollen). Die mindestens erforderlichen Bedarfe für eine menschenwürdige Existenz können aber weder logisch noch begrifflich weiter unterschritten werden.

Eine exakte Berechnung durch Heranziehung statistischer Verbraucherausgaben hat zu einer (möglicherweise nicht einmal ausreichenden) Festsetzung von Leistungen geführt. Die Leistungshöhen im SGB II und SGB XII für Ein- und Mehr-Personen-Haushalte und für Kinder sowie die Mehrbedarfszuschläge entsprechen dieser Berechnung, ohne dass dabei ein zusätzlicher, nicht durch die Berechnung selbst intendierter Betrag als „Bonuszuschlag“ oberhalb des vom Gesetzgeber als erforderlich angesehenen Pauschalbetrags gewährt wird.

Von der Intention des Gesetzgebers, mit den Regelsätzen des SGB II gerade das menschenwürdige Existenzminimum zu sichern, geht auch das Bundesverfassungsgericht aus:

„Die Normen des Regelbedarfs-Ermittlungsgesetzes sind ausweislich der Stellungnahme der Bundesregierung in diesem Verfahren die einzig verfügbare, durch den Gesetzgeber vorgenommene und angesichts seines Gestaltungsspielraums wertende Bestimmung der Höhe von Leistungen zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums.“ [Hervorh. d. Verf.]

BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 126.

 

ee) Mangelnde Ausgestaltung durch §§ 31 ff. SGB II

Die § 31a i. V. m. § 30, § 31b SGB II und § 32 SGB II [§ 32 ggf. streichen!] verstoßen bereits durch die Kopplung der Leistungsgewährung an ein bestimmtes Verhalten des Betroffenen gegen das Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG.

Die Sanktionsnormen sind nämlich ganz offenkundig nicht zum Zwecke und unter Berücksichtigung einer Bedarfsberechnung eingefügt worden. Bezüglich der nach einer Sanktion verbleibenden Leistung liegt keine Bedarfsbestimmung vor: Die Leistung ist in keiner Weise gesetzlich berechnet oder auch nur in Bedarfspositionen festgelegt. Dies stellt einen mangelhaften gesetzgeberischen Ausgestaltungsakt dar.

Normen, die eine pauschale prozentuale Kürzung pro (jede) Pflichtverletzung vorsehen, berechnen keinen tatsächlichen Bedarf, sondern ignorieren ihn. Bei einer Leistungskürzung nach § 31a SGB II/§ 32 SGB II [§ 32 ggf. streichen!] besteht keinerlei Zusammenhang zwischen der restlichen Leistung und dem gegenwärtigen Bedarf der Hilfebedürftigen. Der Sanktionsmechanismus ist vielmehr unabhängig von real existierenden Bedarfen. Der Gesetzgeber hat die volle Erbringung der durch ihn berechneten Leistung stattdessen an Mitwirkungspflichten, d. h. an ein bestimmtes Verhalten der Betroffenen, gekoppelt:

vgl. Gesetzesbegründung, Bundestags-Drucksache 17/3404, S. 110, 112, Vorbemerkung zu den §§ 31 bis 32.

Teile der Literatur sehen darin gleichwohl „Grundrechtsausgestaltungen, die sich nicht den Anforderungen an die Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs stellen müssen.“ [Hervorh. d. Verf.],

so Burkiczak, Zwischenruf zu Nešković/Erdem, Zur Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei Hartz IV, SGb 6/12, S. 324 ff., Nr.1 b.

Andere weisen hingegen auf den Eingriffscharakter hin:

Nešković/Erdem, Für eine verfassungsrechtliche Diskussion über die Menschenwürde von Hartz-IV-Betroffenen, in: SGb 2012, 326 ff. (326 f.).

Sanktionen können jedenfalls „nur zulässig sein, wenn die Leistungsgewährung an bestimmte, über die bloße aktuelle Hilfebedürftigkeit hinausgehende Voraussetzungen geknüpft werden darf.“ [Hervorh. d. Verf.],

Lauterbach, ZFSH/SGB 2011, 584.

Doch dies ist mit dem Bundesverfassungsgericht klar zu verneinen. Einzig und allein der Bedarf ist der Maßstab, nach dem der Gesetzgeber den Leistungsanspruch zu berechnen hat. Der Gesetzgeber darf den Umfang des Existenzminimums nicht nach Gutdünken bestimmen, sondern hat nach verfassungsgerichtlich überprüfbaren Kriterien eine nachvollziehbare Bedarfsberechnung vorzunehmen.

Der Leistungsanspruch

„hängt von den gesellschaftlichen Anschauungen über das für ein menschenwürdiges Dasein Erforderliche, der konkreten Lebenssituation des Hilfebedürftigen sowie den jeweiligen wirtschaftlichen und technischen Gegebenheiten ab und ist danach vom Gesetzgeber konkret zu bestimmen.“ [Hervorh. d. Verf.]

BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 138.

Das Bundesverfassungsgericht hat bereits in einer früheren Entscheidung in Bezug auf die Versagung von Sozialhilfe aufgrund mangelnder Angaben des Leistungsberechtigte zu seiner Notlage i. S. d. § 60 SGB I ausgeführt:

„Diese Pflicht [des Staates zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens, d. Verf.] besteht unabhängig von den Gründen der Hilfebedürftigkeit (vgl. BVerfGE 35, 202 <235>). Hieraus folgt, dass bei der Prüfung der Voraussetzungen eines Anspruchs auf Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums, soweit es um die Beurteilung der Hilfebedürftigkeit der Antragsteller geht, nur auf die gegenwärtige Lage abgestellt werden darf.“

BVerfG vom 12.5.2005 - 1 BvR 569/05, Rn. 28.

In einem auf sein Grundsatzurteil vom 9.2.2010 folgenden Beschluss betreffend die Einkommensanrechnung, führt das Bundesverfassungsgericht aus, die Verfassung gebiete nicht die Gewährung von

bedarfsunabhängigen, voraussetzungslosen Sozialleistungen. Der Gesetzgeber hat vielmehr einen weiten Spielraum, wenn er Regelungen darüber trifft, ob und in welchem Umfang bei der Gewährung von Sozialleistungen, die an die Bedürftigkeit des Empfängers anknüpfen, sonstiges Einkommen des Empfängers auf den individuellen Bedarf angerechnet wird“ (vgl. BVerfGE 100, 195 <205>).“ [Hervorh. d. Verf.].

BVerfG, 1 BvR 2556/09 vom 7.7.2010, Rn. 13.

Damit lässt es gerade nicht die Kopplung des Leistungsanspruchs an irgendeine beliebige Voraussetzung zu. Im Gegenteil geht das Bundesverfassungsgericht weiterhin von einem unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem tatsächlichen Bedarf des Betroffenen und der Leistungserbringung aus: Voraussetzung für die Leistungsgewährung ist die gegenwärtige Bedürftigkeit. Der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers umfasst nicht die Anknüpfung an willkürliche Tatbestandsvoraussetzungen, sondern lediglich „die Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse ebenso wie die wertende Einschätzung des notwendigen Bedarfs“ [Hervorh. d. Verf.].

BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 138.

Durch eine Leistungskürzung wird im Ergebnis ein verminderter Bedarf zuerkannt. Doch durch das die Sanktionen auslösende Verhalten ist der Hilfebedürftige nicht mit einem Mal weniger bedürftig. Die Mittel, die er für die physischen Existenz und zu einem Mindestmaß an sozialer Teilhabe benötigt, bleiben die gleichen, die er vor dem vorgeworfenen Verhalten benötigt hat.

Vgl. Nešković/Erdem, Für eine verfassungsrechtliche Diskussion über die Menschenwürde von Hartz-IV-Betroffenen, in: SGb 2012, 326 ff. (327).

Wird eine mangelhafte und/oder mangelnde Berechnung des existenznotwendigen Bedarfs vorgenommen, ist das Grundrecht in einer (unzulässigen) Weise bestimmt worden, welche selbst gegen das Grundrecht verstößt:

vgl. BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 144.

Das Bundesverfassungsgericht hat hinsichtlich der mangelhaften Berechnung der alten Hartz-IV-Regelleistungen ausgeführt:

„Schätzungen ‚ins Blaue hinein` laufen [...] einem Verfahren realitätsgerechter Ermittlung zuwider und verstoßen deshalb gegen Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG.“

BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 171.

Wenn bereits Gesetzesvorschriften, die auf einer nicht nachvollziehbaren Berechnung (aber immerhin auf einer Bedarfsschätzung) beruhen, gegen das Grundrecht auf Sicherung eines Existenzminimums verstoßen, muss dies erst recht für Normen gelten, die die Höhe der Leistung überhaupt nicht an den Bedarf,  sondern an ein Verhalten des Bedürftigen koppeln.

Vgl. Nešković/Erdem, Zur Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei Hartz IV - Zugleich eine Kritik am Bundesverfassungsgericht, SGb 2012, 136 ff. (139).

Unabhängig davon, ob der Gesetzgeber die Leistungsgrenzen unter Umständen noch enger ziehen oder Leistungen für soziale Teilhabe komplett aberkennen dürfte,

so offenbar Burkiczak - BeckOK, SGB II § 31a Rn. 12 f. und Davilla, SGb 2010, 557, 558 f.,

könnten negative Abweichungen vom (einfach-)gesetzlich zuerkannten Leistungsanspruch überhaupt nur dann verfassungsgemäß sein, wenn sie ihrerseits den Umfang des Grundrechts in zulässiger Weise ausgestalten. Dies ist der Fall, wenn sie selbst ein bedarfsberechnendes Parlamentsgesetz darstellen.

Vgl. Nešković/Erdem, Zur Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei Hartz IV, SGb 2012, 136 ff. (139).

Es ist deswegen auch nur unter ganz bestimmten Bedingungen möglich, für verschiedene Personengruppen unterschiedliche Leistungsumfänge zur Deckung des Existenzminimums zu definieren:

„Werden hinsichtlich bestimmter Personengruppen unterschiedliche Methoden zugrunde gelegt, muss dies allerdings sachlich zu rechtfertigen sein. (...) Eine Differenzierung ist nur möglich, sofern deren Bedarf an existenznotwendigen Leistungen von dem anderer Bedürftiger signifikant abweicht und dies folgerichtig in einem inhaltlich transparenten Verfahren anhand des tatsächlichen Bedarfs gerade dieser Gruppe belegt werden kann.“ [Hervorh. d. Verf.]

BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 97, 99.

Diese Voraussetzung ist bei der Gruppe der von Leistungskürzungen Betroffenen nicht erfüllt. Aus diesem Grund ist eine gleiche Ausgestaltung des Leistungsanspruchs geboten.

Schon gar nicht erfolgt eine abweichende Ausgestaltung des Grundrechts durch eine im Einzelfall vorgenommene Sachleistungsvergabe nach § 31a Abs. 3 SGB II.

Zum einen stellt die „Berechnung zur Höhe ergänzender Sachleistungen“ in den Hinweisen der Bundesagentur für Arbeit, die durch Addition der Bedarfe für „Ernährung und Körperpflege“ zu einer „Gesamtgutscheinhöhe“ von 176 Euro (ca. 46 % des Regelbedarfs) gelangt,

vgl. BA-Hinweise zu §§ 31 ff. SGB II, Anlage 3 und Anlage 4,

nicht einmal irgendeine (schon gar keine nachvollziehbare) Bedarfsberechnung durch Parlamentsgesetz dar. Zum anderen darf es augenscheinlich nicht der Verwaltung obliegen, im einzelnen Sanktionsfall den konkreten Umfang der Leistungen und damit den Inhalt des Grundrechts auf Zusicherung eines menschenwürdigen Existenzminimums nach mehr oder weniger freiem Ermessen einzuschätzen.

Der Umfang des menschenwürdigen Existenzminimums wird im Falle einer durch einen Hilfebedürftigen begangenen „Pflichtverletzung“ demnach nicht hinreichend bestimmt bzw. ohne sachlichen, bedarfsabhängigen Grund niedriger beziffert. Dabei ist es die aus dem Grundrecht entspringende Pflicht des Gesetzgebers, den Leistungsanspruch durch ein Parlamentsgesetz

„in einem transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu bemessen“,

BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Leitsatz 3.

 

 

ff) Sanktionen als unzulässiger Eingriff

Bei den Sanktionsnormen handelt es sich auch nicht um einen zulässigen Eingriff in das Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG.  Denn es ist von Verfassung wegen verwehrt, existenzsichernde Leistungen – von denen nach der Entscheidung des BVerfG vom 9.2.2010 und angesichts eines anhängigen Vorlageverfahrens (SG Berlin, S 55 AS 9238/12) nicht einmal als gewiss gelten kann, dass sie das Existenzminimum überhaupt decken,

vgl. dazu Münder, Verfassungsrechtliche Bewertung des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.3.2011 – BGBl. I S. 453, in: Soziale Sicherheit, Zeitschrift für Arbeit und Soziales der Hans-Böckler-Stiftung, Sonderheft, September 2011

trotz nachgewiesener Bedürftigkeit durch die Verwaltung im Einzelfall zu kürzen. Im Gegenteil verlangt Art. 1 Abs. 1 GG, der

„die Menschenwürde jedes einzelnen Individuums ohne Ausnahme schützt, dass das Existenzminimum in jedem Einzelfall sichergestellt wird.“ [Hervorh. d. Verf.]

BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 205.

Das Gewährleistungsrecht des Einzelnen ergibt sich nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 GG:

„Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG. (...) Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch.“ [Hervorh. d. Verf.]

BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 133.

„Dieser objektiven Verpflichtung aus Art. 1 Abs. 1 GG korrespondiert ein Leistungsanspruch des Grundrechtsträgers, da das Grundrecht die Würde jedes individuellen Menschen schützt (vgl. BVerfGE 87, 209 <228>) und sie in solchen Notlagen nur durch materielle Unterstützung gesichert werden kann.“ [Hervorh. d. Verf.]

BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 134.

„Die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums muss durch einen gesetzlichen          Anspruch gesichert sein. Dies verlangt bereits unmittelbar der Schutzgehalt des Art. 1 Abs. 1 GG.“ [Hervorh. d. Verf.]

BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 136.

„Der Leistungsanspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG ist dem Grunde nach von der Verfassung vorgegeben.“ [Hervorh. d. Verf.]

BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 138.

Bei der Menschenwürde ist jedoch jeder Eingriff ein ungerechtfertigter, d. h. zugleich ihre Verletzung. Für eine zulässige Einschränkung des Grundrechts ist demnach kein Raum.

Vgl. nur BVerfG vom 3.6.1987 – 1 BvR 313/85, BVerfGE 75, 369, 380; Hillgruber, BeckOK, GG Art. 1 Rn. 11; Nešković/Erdem, Zur Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei Hartz IV, SGb 2012, 136 ff. (140) m. w. N.

Die für die Bundesrepublik Deutschland schlechthin konstituierende unantastbare Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG ist einem gerechtfertigten Eingriff unzugänglich. Ein Sanktionsregime, das die „Verweigerung des Überlebensnotwendigen, sei es auch nur vorübergehend, vorsieht, ist deshalb verfassungswidrig“.

Schnath, NZS 2010, 297, 301.

Das (einmal durch den Gesetzgeber ausgestaltete) Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG ist „unverfügbar“.

BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 133.

Legt der Gesetzgeber in Erfüllung seiner grundrechtlichen Verpflichtung zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums eine bestimmte Höhe des Existenzminimums fest, dann nimmt er damit eine Konkretisierung/Inhaltsbestimmung des Grundrechts vor, an der sich Kürzungen im Einzelfall messen lassen müssen.

Vgl. Nešković/Erdem, Zur Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei Hartz IV, SGb 2012, 136 ff. (140); dieselben, Für eine verfassungsrechtliche Diskussion über die Menschenwürde von Hartz-IV-Betroffenen, in: SGb 2012, 326 ff. (327).

Das so berechnete „Minimum für die Existenz“ bezeichnet „bereits denklogisch einen nicht unterschreitbaren Kern. Der gesamte Leistungsumfang des Existenzminimums muss somit zugleich sein Mindestinhalt sein“, der „in jedem Fall und zu jeder Zeit“ gewährleistet sein muss.“

Landessozialgericht NRW, L 20 AY 153/12 B ER vom 24.4.2013, Rn. 55 m. w. N.

Jegliche Be- und Einschränkung dieses Anspruchs – aus welchen Gründen auch immer – bedeutet unweigerlich eine Einschränkung des Leistungsrechts und verletzt das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Dies gilt insbesondere für eine bedarfsunabhängige Verminderung des Anspruchs.

Sanktionen gemäß §§ 31a, 32 SGB II führen dazu, dass das vom Gesetzgeber festgelegte Existenzminimum für den Zeitraum der Sanktion unterschritten wird. Hierbei wird zum einen vollkommen vom Bedarf abstrahiert und zum anderen die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts unterlaufen, nach der „Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG verlangt, dass das Existenzminimum in jedem Fall und zu jeder Zeit sichergestellt sein muss“ [Hervorh. d. Verf.],

BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 120,

und „zu jeder Zeit die Erfüllung des aktuellen Bedarfs sicherzustellen“ ist,

BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 140.

Jede Unterschreitung dieses unverfügbaren Anspruchsinhalts stellt eine Verletzung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG dar.

Es kann für Eingriffe in das Grundrecht schlechthin keine Rechtfertigung geben. Dabei kann es dahinstehen, welche beispielsweise haushälterischen Auswirkungen die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums staatlicherseits hat. Der Staat hat die Verpflichtung, seine aus der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip erwachsenden Aufgaben zu erfüllen und die entsprechenden Mittel zur Verfügung zu stellen,

vgl. Bryde, Steuerverweigerung und Sozialstaat, in: Aschke/Hase/Schmidt-De/Caluwe (Hg.), Selbstbestimmung und Gemeinwohl, Festschrift für Friedrich von Zezschwitz zum 70. Geburtstag, 2005, S. 326 ff.; Nešković/Erdem, Zur Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei Hartz IV, SGb 2012, 140.

 

gg) Evidente Bedarfsunterschreitung

Darüber hinaus liegt jedenfalls bei allen Sanktionen von über 30 % der Regelleistung zusätzlich ein Verstoß gegen das Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG aufgrund einer evidenten Unterschreitung des zum Leben Notwendigen vor.

Hat der Gesetzgeber nämlich erst einmal Leistungen zur Deckung des Existenzminimums festgelegt, so muss er sich daran messen lassen. Der durch den Gesetzgeber zuerkannte Leistungsanspruch ist nunmehr unmittelbar verfassungsrechtlich geschützt. Nach einer Inhaltsbestimmung erstreckt sich der verfassungsrechtliche Schutz und damit die (Evidenz-) Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts auf den inhaltlich konkretisierten Umfang des Grundrechts.

Vgl. Nešković/Erdem, Für eine verfassungsrechtliche Diskussion über die Menschenwürde von Hartz-IV-Betroffenen, in: SGb 2012, 326 ff. (329).

Entsprechend hat das Bundesverfassungsgericht bei seiner Entscheidung über die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz die Leistungen nach dem SGB II als Maßstab für seine Evidenzkontrolle herangezogen und für seine Übergangsregelung auf das Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz zurückgegriffen:

vgl. BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 107 ff., 126 ff.

Dabei hat es ausgeführt:

„Die Normen des Regelbedarfs-Ermittlungsgesetzes sind ausweislich der Stellungnahme der Bundesregierung in diesem Verfahren die einzig verfügbare, durch den Gesetzgeber vorgenommene und angesichts seines Gestaltungsspielraums wertende Bestimmung der Höhe von Leistungen zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums.“ [Hervorh. d. Verf.]

BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 126.

Unter diesem Maßstab führt bereits eine erhebliche Abweichung vom dem festgelegten Regelsatz zu der Annahme einer evidenten Unterschreitung des Existenzminimums, ohne dass es auf die Deckung des zum physischen Überleben Notwendigen noch ankäme.

So offenbart nach dem Bundesverfassungsgericht

 „ein erheblicher Abstand von einem Drittel zu Leistungen nach dem Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch, deren Höhe erst in jüngster Zeit zur Sicherung des Existenzminimums bestimmt wurde [...], ein Defizit in der Sicherung der menschenwürdigen Existenz.“ [Hervorh. d. Verf.]

                   BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 112.

Bereits die erste in § 31a Abs. 1 S. 1 SGB II festgelegte Sanktionsstufe, bei der durch die Verwaltung unter keinen Umständen ein Ausgleich durch Sachleistungen vorgenommen werden kann, beträgt 30 %. Schon in dieser Unterschreitung um nahezu ein Drittel der Regelleistung liegt eine evidente Unterschreitung, erst recht bei allen höheren Sanktionsstufen.

Zwar ist bei Sanktionen ab 40 % gemäß § 31 Abs. 3 S. 1 SGB II die Gewährung von Sachleistungen und geldwerten Leistungen als Kompensationsmöglichkeit vorgesehen. Eine solche Kompensation wird jedoch nur bis zu einer Grenze von aktuell 172 Euro gewährt,

vgl. BA-Hinweise zu §§ 31 ff. SGB II, Anlage 3 und Anlage 4.

Dies entspricht nicht einmal 50 % des Regelbedarfs nach § 20 SGB II.

Eine Sachleistungsvergabe kann höchstens zur relativen Abmilderung der (von Grund auf verfassungswidrigen) Folgen einer Leistungskürzung führen, den Verfassungsverstoß selbst jedoch nicht beseitigen.

Darüber hinaus ist die Gewährleistung von Sachleistungen von der Antragstellung durch den Betroffenen abhängig. Das bedeutet, es braucht ein aktives Verhalten des Bedürftigen als Zwischenschritt, um überhaupt eine Kompensationsmöglichkeit zu erreichen. Selbst dann liegt die Entscheidung über die Bewilligung nach § 31a Abs. 1 S. 1 SGB II noch im Ermessen der Verwaltungsbehörde.

Zur Unmöglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung s. unter 3.

Das Bundesverfassungsgericht fordert jedoch eine Festsetzung der Bedarfshöhe durch ein Parlamentsgesetz:

vgl. BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 136.

Abgesehen davon, dass es nicht nachvollziehbar ist, wieso von Gesetzes wegen die Kompensation der Leistungskürzung durch Sachleistungen erst bei Sanktionen über 30 % in Betracht kommt, entspricht es auch nicht dem rechtsstaatlichen Bestimmtheitserfordernis, über die Gewährleistung der Sachleistungen und damit über die erheblichen, strafähnlichen Folgen einer Sanktion einzelne Verwaltungsbehörden ins Blaue hinein entscheiden zu lassen.

Solches Verwaltungshandeln ist jedenfalls nicht geeignet, den von Verfassung wegen gebotenen Leistungsanspruch in jedem Einzelfall sicherzustellen und damit eine evidente Unterschreitung des Existenzminimums abzuwehren.

Zur Unmöglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung s. unter 3.

 

 

hh) Keine Selbsthilfeobliegenheit zum Erwerb des Existenzminimums

Der Unverletzlichkeit des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums steht auch nicht entgegen, dass die Sanktionsreglungen der §§ 31a, 32 SGB II dem sozialpolitischen Selbsthilfegrundsatz entsprechen. Nach diesem Prinzip sollen erwerbsfähige Menschen ihrerseits alle Mittel ausschöpfen und Maßnahmen ergreifen, um ihre Hilfebedürftigkeit zu beenden und letztlich dem (Erwerbs-)Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen zu können.

Der Gesetzgeber hat die Einfügung der Sanktionsnormen in das SGB II mit diesem Grundsatz begründet:

„Das Prinzip des Fördern und Forderns besagt, dass eine Person, die mit dem Geld der Steuerzahler in einer Notsituation unterstützt wird, mithelfen muss, ihre Situation zu verbessern. Eine Person, die hilfebedürftig ist, weil sie keine Arbeit findet, kann mit der Unterstützung der Gemeinschaft rechnen. Im Gegenzug muss sie alles unternehmen, um ihren Lebensunterhalt wieder selbst zu verdienen.“

Bundestags-Drucksache 17/3404, S. 110.

Die sozialpolitische Entscheidung des Gesetzgebers, sein gesetzgeberisches Handeln an diesem Prinzip zu orientieren, ist verfassungsrechtlich nicht geboten. Es findet seinen Niederschlag lediglich in einfachgesetzlichen Regelungen. Solche müssen im Kollisionsfall mit verfassungsrechtlichen Vorgaben zurückstehen. Das gilt in besonderem Maße bei einer Kollision mit dem nicht beschränkbaren Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG.

Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich ein Menschenrecht konkretisiert:

BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 88.

Die Erfüllung eines Menschenrechts darf nicht von Bedingungen abhängen. Denn die Menschenwürdegarantie gilt absolut. Das Bundesverfassungsgericht weist ausdrücklich darauf hin:

„Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.“

BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 121.

Die Menschenwürde kann auch arbeitsmarktpolitisch oder fiskalpolitisch nicht relativierbar sein.

Vgl. Nešković/Erdem, Zu den Auswirkungen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Asylbewerberleistungsgesetz auf die verfassungsrechtliche Beurteilung von Sanktionen bei Hartz IV, 30.7.2012, http://www.wirtschaftundgesellschaft.de/2012/07/menschenrecht-auf-existenz-ein-gastbeitrag-von-wolfgang-neskovic-und-isabel-erdem/ (abgerufen am 12.7.2013)

Im Hinblick auf die Unantastbarkeit der Menschenwürde „darf ihre Beeinträchtigung nicht als Druckmittel eingesetzt werden.“ [Hervorh. d. Verf.]

SG Altenburg, S 21 AY 3362/12 ER vom 11.10.2012; ähnlich SG Düsseldorf, S 17 AY 81/12 ER vom 19.11.2012, Rn. 11.

Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 2005 entschieden, dass die Pflicht zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens „unabhängig von den Gründen der Hilfebedürftigkeit“ besteht.

BVerfG, 1 BvR 569/05 vom 12.5.2005, Rn 28.

Aus alledem folgt zwingend, dass selbst bewusste Zuwiderhandlungen von Leistungsberechtigte gegen den Selbsthilfegrundsatz insoweit hingenommen werden müssen, als es um den Kernbereich der menschenwürdigen Existenz, d. h. Leistungen zur Deckung des menschenwürdigen Existenzminimums geht. Dem Gesetzgeber bliebe es unbenommen, in anderen Bereichen der (Sozial-)Leistungsvergabe das „Solidarprinzip“ zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft mittels Selbsthilfeobliegenheiten durchzusetzen. Doch im Bereich des unverfügbaren Existenzminimums kann es keine Obliegenheit des Grundrechtsträgers geben, sich durch sein Verhalten den Anspruch auf die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums erst zu erwerben.

Die hiergegen teilweise angeführten Warnungen vor einer „allgemeinen Mindestsicherung“ und das Argument der Unfinanzierbarkeit vorbehaltloser Sozialleistungen, indem eine Kollision mit dem Lebensstandard der übrigen Bevölkerung und demnach der „Rückgriff auf das Existenzminimum der dann noch verbliebenen Steuerzahler“ drohe,

s. stellvertretend BSG-Urteil vom 22.4.2008 – B 1 KR 10/07, juris Rn. 31,

ist angesichts des vorhandenen Reichtums in unserer Gesellschaft realitätsfern und läuft zudem auf eine unzulässige Abwägung „Menschenwürde gegen Menschenwürde“ hinaus.

Vgl. Nešković/Erdem, Zur Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei Hartz IV, SGb 2012, S. 134 ff. (140).

Neben der Unverfügbarkeit des Existenzminimums wird bei dieser Argumentation häufig die gesellschaftliche Realität verkannt.

Es liegen bisher keine Zahlen darüber vor, inwieweit die in § 31 SGB II kodifizierten Pflichten Hilfebedürftige in Erwerbsarbeit befördern, also zur Erleichterung des Sozialsystems überhaupt geeignet sind. Im Gegenteil spricht einiges gegen diese Annahme: Oft werden Leistungsberechtigten befristete oder gering bezahlte Tätigkeiten oder teure Fortbildungsmaßnahmen zugewiesen, deren Erfolge zur Integration in den ersten Arbeitsmarkt als gering eingeschätzt werden. Die damit verbundenen Zahlungen an die Träger solcher Maßnahmen belasten den Steuerzahler erheblich:

vgl. z. B. Bericht des WDR „Sinnlos zur Weiterbildung verdonnert“, vom 31.1.2013: http://www1.wdr.de/themen/wirtschaft/hartzvier112.html (abgerufen am 12.7.2013)

Unter den gegenwärtigen Bedingungen sind auf dem ersten Arbeitsmarkt schlicht nicht genug akzeptabel bezahlte Arbeitsplätze vorhanden: Die Zahl derer, die nicht oder unzureichend verdienen und so das Sozialsystem belasten, übersteigt die Anzahl verfügbarer ausreichend entlohnter Arbeitsstellen um ein Vielfaches:

vgl. nur Statistik der BA: http://www.sozialpolitik-aktuell.de/tl_files/sozialpolitik-aktuell/_Politikfelder/Arbeitsmarkt/Datensammlung/PDF-Dateien/abbIV32.pdf (abgerufen am 12.7.2013)

Dieses Missverhältnis führt zwangsläufig dazu, dass die jeweils Erwerbstätigen durch ihre Einzahlung in die Sozialsysteme das Überleben einer gewissen Zahl nicht einzahlender Mitbürger dauerhaft mit gewährleisten. Ob es sich dabei um Personen handelt, die vorübergehend oder auf längere Zeit keinen Zugang zum Arbeitsmarkt finden oder ob es sich um Personen handelt, die aufgrund wenig aussichtsreicher Perspektiven (Alter, Behinderung, Betreuungsaufgaben oder Ausbildungsdefizite) oder aufgrund mangelnder Bereitschaft zur Teilnahme an einer Maßnahme oder Aufnahme einer Arbeit oder wegen unzureichender Eigenbemühungen dem Arbeitsmarkt entzogen sind, macht vom Standpunkt der staatlichen Finanzierbarkeit keinen Unterschied. Angesichts der sehr niedrigen Regelleistungen des SGB II im Vergleich zum Durchschnittseinkommen der erwerbstätigen Bevölkerung kann auch nicht angenommen werden, dass ohne Sanktionstatbestände ein solcher Anstieg der Arbeitslosigkeit zu verzeichnen wäre, dass das deutsche Sozialsystem notstandsähnlich gefährdet würde.

Die Folgen von disziplinierenden Sanktionen können zudem durchaus kostenintensiver für das Sozialsystem sein als ein unveränderter Leistungsbezug eines Minimalbeitrags. Der durch die Sanktionsdrohung erzeugte Druck führt zu einem Anstieg der psychischen und physischen Krankheiten; durch Leistungskürzungen kommt es außerdem verstärkt zu Mietschulden und sogar Räumungen von Hilfebedürftigen Mietern. Sanktionierte sind zum Teil auf Suppenküchen oder Obdachlosenunterkünfte angewiesen.

Vgl. zu den sozialen Auswirkungen von Sanktionen Grießmeier, Der disziplinierende Staat, 2012, S. 48 ff.; Ames, Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen nach § 31 SGB II, 2009, S. 158.

Die daraus resultierenden steigenden Gesundheits- und andere Kosten belasten das Sozialsystem zusätzlich.

Soziale Hilfen komplett zu entsagen und Bedürftige gegebenenfalls verhungern zu lassen, ist in einem Sozialstaat schlicht unzulässig und verfassungswidrig. Dann muss es aber bereits denknotwendig eine unterste Grenze staatlicher Leistungen geben, die jedem Menschen „unabhängig von den Gründen der Hilfebedürftigkeit“,

BVerfG vom 12.5.2005 - 1 BvR 569/05, Rn. 28,

zugestanden werden. Es muss sich um Leistungen handeln, die für seine menschenwürdige Existenz unbedingt notwendig sind. Dies ist eine sozialstaatliche Verpflichtung. Zur Erfüllung dieser Aufgabe hat der Staat „nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, sich mit den notwendigen Mitteln auszustatten.“

Bryde, Steuerverweigerung und Sozialstaat, in Aschke/Hase/Schmidt-De/ Caluwe (Hg.), Selbstbestimmung und Gemeinwohl, Festschrift für Friedrich von Zezschwitz zum 70. Geburtstag, 2005, S. 326 ff.

Diese Wertentscheidung des Grundgesetzes ist unabänderlich, da sowohl die Menschenwürde aus Art. 1 Abs. 1 GG als auch das Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG unter dem Schutz der Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG stehen.

Soweit einfachgesetzliche Regelungen – aus welchen Gründen auch immer, seien sie willkürlich, migrationspolitisch oder sozialpolitisch intendiert – nicht nur zu einer verzögerten Auszahlung (z. B. wegen verspäteter Antragstellung), sondern zu einer absoluten Unterschreitung dieses Existenzminimums führen, sind sie daher verfassungswidrig.

 

ii) Absehen von Verhältnismäßigkeitsprüfung

Die Frage einer möglichen (Un-)Verhältnismäßigkeit der Leistungskürzungen nach §§ 31 ff. SGB II, etwa durch den starren Absenkungsmechanismus oder schärfere Sanktionen für Unter-25-Jährige, stellt sich damit gar nicht mehr.

Zur Diskussion in der Literatur um die Verhältnismäßigkeit s. Anhang.

 

jj) Zwischenergebnis

Indem sie zu einer absoluten Unterschreitung unter das von Verfassung wegen gebotene und durch einfachgesetzlichen Leistungsanspruch konkretisierte menschenwürdige Existenzminimum führen, verletzen die § 31a i. V. m. § 31, 31 b, § 32 SGB II [ggf. § 32 streichen!] das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums.

 

 

 

 

b)

Verstoß gegen Art. 12 Abs. 1 GG

§ 31a i. V. m. § 31 Abs. 1 Nr. 2 und § 31b SGB II verstoßen darüber hinaus gegen die Berufsfreiheit gemäß Art. 12 Abs. 1 GG.

 

aa) Eingriff in den Schutzbereich

Art. 12 Abs. 1 GG konkretisiert das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 GG und zielt auf eine möglichst freie und unreglementierte berufliche Betätigung.

Vgl. BVerfGE 103, 172 (183).

Art. 12 Abs. 1 GG umfasst dabei sowohl die Berufswahl- und Berufsausübungsfreiheit als auch die freie Wahl des Arbeitsplatzes. Dabei ist auch die negative Berufsfreiheit vom Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG umfasst. Das bedeutet, es steht jedem Grundrechtsträger frei, eine bestimmte Arbeit nicht zu ergreifen. Es liegt in der Entscheidungsgewalt des Einzelnen, für sich zu entscheiden, einer bestimmten beruflichen Tätigkeit nicht nachzugehen. Das Bundesverfassungsgericht bezeichnet dies als

„die notwendige Kehrseite der positiven Freiheitverbürgung, bezogen auf das Ziel, einen Lebensbereich von staatlichen Eingriffen und Manipulation freizuhalten“.

BVerfGE 58, 358 (364).

§ 31 Abs. 1 Nr. 2 SGB II normiert als Pflichtverletzung, wenn eine i. S. d. SGB II zumutbare Arbeit, Ausbildung, Arbeitsgelegenheit gemäß § 16 d SGB II oder ein gemäß § 16 e SGB II gefördertes Arbeitsverhältnis nicht aufgenommen, nicht fortgeführt oder deren Anbahnung verhindert wird. Diese Pflichtverletzung führt zur Sanktionierung des Leistungsempfängers.

Die Sanktionierung, die zur – ihrerseits selbstständig verfassungswidrigen – Kürzung des menschenwürdigen Existenzminimums führt, stellt für den Leistungsberechtigten einen erheblichen Einschnitt dar.

Die Drohwirkung, die eine Sanktionierungsmöglichkeit nach §§ 31 ff. SGB II entfaltet, ist geeignet, den freien und selbstbestimmten Entscheidungsprozess zu beeinträchtigen. Es ist naheliegend und vom Gesetzgeber gerade beabsichtigt, dass der Leistungsempfänger eine Beschneidung seiner Mittel vermeiden will. Das führt dazu, dass er de facto genötigt wird, jede i. S. d. Gesetzes zumutbare Arbeit, Ausbildung, Arbeitsgelegenheit gemäß § 16 d SGB II oder ein gemäß § 16 e SGB II gefördertes Arbeitsverhältnis aufzunehmen, unabhängig davon, ob dies seinem Willen oder seinem Verständnis von guter bzw. akzeptabler Arbeit entspricht.

Die Sanktionsandrohung übt auf den Leistungsberechtigten einen faktischen Zwang aus, der einer imperativen Verpflichtung zur Aufnahme einer nicht gewollten Tätigkeit gleichkommt. Besonders augenscheinlich wird dieser Zwang im Fall einer 100 % Sanktion, wenn eine i. S. d. SGB II zumutbare Beschäftigungsmöglichkeit nicht genutzt wird.

Diese Folgen des § 31a i. V. m. § 31 Abs. 1 Nr. 2 SGB II greifen ganz erheblich in die negative Berufsfreiheit gemäß Art. 12 Abs. 1 GG ein.

Ähnlich Berlit, Handbuch Existenzsicherungsrecht, 2013, Kapitel 23 (Sanktionen), Rn. 15 f.

 

 

bb) Keine verfassungsrechtliche Rechtfertigung

Der mittelbare Arbeitszwang ist auch nicht gerechtfertigt.

Ziel der verhängten Sanktion ist die Arbeitsmarktannäherung des Pflichten verletzenden Leistungsempfängers. Hierfür sind die Sanktionsnormen schon nicht geeignet.

Die Verhängung von Sanktionen erweist sich im Gegenteil für das Ziel der Arbeitsmarktannäherung als kontraproduktiv und eher erschwerend, denn fördernd:

vgl. Ames, Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen nach § 31 SGB II, 2009, S. 162 f., 168; Grießmeier, Der disziplinierende Staat, 2012, S. 43; Berlit, in: Münder, LPK-SGB II, § 31a, Rn. 7; derselbe, Minderung der verfügbaren Mittel – Sanktionen und Aufrechnung im SGB II, ZFSH/SGB 2012, 567.

Schon gar nicht lassen sich Sanktionen gemäß §§ 31a i. V. m. § 31 Abs. 1 Nr. 2 und § 31b SGB II als mildestes Mittel und somit erforderlich qualifizieren.

Um die Erreichung des einfachgesetzlichen Ziels der Arbeitsmarktannäherung sicherzustellen, käme es naheliegender Weise in Betracht, den Betreffenden durch individuell abgestimmte Unterstützungsangebote wie zusätzliche Beratungen und freiwillige Weiterbildungsmaßnahmen zu fördern und bei der Arbeitssuche behilflich zu sein.

Auch entsprechen die Sanktionsregelungen der §§ 31 ff. SGB II nicht dem mildesten Mittel, da keine Notwendigkeit bestünde,Sanktionen strikt über drei Monate zu verhängen. Die Sanktionsfrist, die § 31b Abs. 1 S. 3 SGB II etabliert, wird selbst dann nicht verkürzt, wenn die pflichtverletzende Handlung unmittelbar nachgeholt wird.

Vgl. dazu Däubler, info also 2/2005, S. 51 ff. (53).

Für eine fördernde Wirkung sind die Regelungen zu Zeitdauer und Umfang der Leistungsminderung in jedem Fall zu unflexibel.

Vgl. hierzu: Berlit, in: Münder, LPK-SGB II, § 31a, Rn. 5.; Loose, Sanktionierung von Pflicht und Obliegenheitsverletzungen im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende, ZFSH/SGB 2010, S. 345; Däubler, info also 2/2005, S. 51 ff. (53).

Indem sie durch ein Anknüpfen an Unterlassenstatbestände und eine Addition und Aufeinanderfolge von Einzelsanktionen als Rechtsfolge eine einmalige oder auch unbegrenzte Sanktionsmöglichkeit eröffnen, genügen die Sanktionsregelungen außerdem nicht den Bestimmtheitsanforderungen. Denn die dauerhafte Nichtvornahme der Mitwirkung, d. h. ein und dasselbe Verhalten einer Person (z. B. anhaltende Unerreichbarkeit oder Arbeitsverweigerung) kann als beliebig viele „Pflichtverletzungen“ im Sinne des § 31 SGB II zählen und damit sanktionsauslösend sein. Denn eine „Pflichtverletzung“ stellt juristisch reines Unterlassen dar. Die Pflichten sind jedoch allgemein formuliert, die konkreten Verhaltensanforderungen ergeben sich nicht aus dem Gesetz selbst. So liegt ein sanktionsbewehrtes Unterlassen nicht etwa objektiv zu einem gesetzlich bestimmten Pflichterfüllungszeitpunkt vor. Welche Pflicht konkret besteht und in welchem Maße eine Sanktionierung erfolgt, hängt vielmehr einzig und allein von der Art und der Anzahl der Aufforderungen ab, die der jeweilige persönliche Sachbearbeiter an den Bedürftigen richtet. Bei besonders „motivierten“ Sachbearbeitern werden in gleichem Zeitraum mehr und andere „Pflichten“ bestehen und daher Pflichtverletzungen zu verzeichnen sein. Ein fortgesetztes Unterlassen kann eine Zeit lang (z. B. bei „großzügigen“ Eingliederungsvereinbarungen) pflichtgemäß sein, mit der Folge, dass der Bedürftige unverändert im vollen Leistungsbezug steht. Wenn aber im selben Zeitraum eine Aufforderung oder ein Arbeitsangebot ergeht, wird dasselbe Verhalten als einmalige Pflichtverletzung gewertet. Das reine Unterlassen kann einige wenige Sanktionen auslösen, es kann aber ebenso gut jahrelange Vollsanktionierung nach sich ziehen. Dies liegt nicht an einer abweichenden Überprüfung von objektivem Fehlverhalten; bereits der tatbestandliche Umfang der Pflichtigkeit, der die Grundlage eines Fehlverhaltens durch Unterlassen bildet, bedarf erst einer Konkretisierung durch die Verwaltung. Im Vorhinein steht für den Leistungsberechtigten somit gesetzlich nicht fest, welche konkreten Auswirkungen sein Verhalten nach sich zieht.

Dass darin ein Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot zu erblicken ist, liegt auf der Hand. Dabei sind gerade bei den Sanktionsnormen der §§ 31 ff. SGB II, die ein erhebliches Drohpotenzial entfalten und insoweit Strafcharakter haben, die Anforderungen an die Bestimmtheit besonders hoch.

Schließlich wären die §§ 31 ff. SGB II – selbst bei unterstellter Geeignetheit und Erforderlichkeit – auch unangemessen. Die Konsequenzen der Sanktionen stehen völlig außer Verhältnis zum verfolgten Ziel.

100-%-Sanktionen ohne Sachleistungskompensation gemäß §§ 31 ff. SGB II können dazu führen, dass Beitragserstattungen für den Kranken- und Pflegeversicherungsschutz entfallen. Gleichzeitig bleibt in diesen Fällen zunächst die Krankenversicherungspflicht bestehen, so dass dem Beitragspflichtigen zwangsläufig Schulden entstehen, da die Beiträge nicht geleistet werden können. Werden die Beiträge über zwei Monate nicht bezahlt, besteht nur noch ein Anspruch auf die „Notversorgung“ gem. § 16 Abs. 3a S. 2 1.HS SGB V.

In der Vergangenheit führten Leistungskürzungen immer wieder zu gesundheits-beeinträchtigenden, sogar lebensbedrohlichen Situationen bei Sanktionierten.

Ein depressiver 20-jähriger Sanktionierter starb an Unterversorgung der Organe in seiner Wohnung. Die Mutter gab an, dass sie sich keine Nahrungsmittel hätten kaufen können:

http://www.sueddeutsche.de/panorama/speyer-arbeitsloser-verhungert-in-seiner-wohnung-1.666139 (abgerufen am 12.7.2013)

http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/arbeitsloser-in-speyerverhungert/835784.html (abgerufen am 12.7.2013)

Ein Sanktionierter musste  wegen Unterernährung in ein Krankenhaus eingeliefert werden. Eine andere Sanktionierte habe sich aus Not an Lebensmitteln prostituiert:

vgl. Grießmeier, Der disziplinierende Staat, 2012, S. 47 f.

Sanktionierung treibt nicht selten die Betroffenen in die Delinquenz oder Depressionen:

vgl. Ames, Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen nach § 31 SGB II, 2009, S. 161 f.;  Grießmeier, Der disziplinierende Staat, 2012, S. 48 ff. m. w. N.

Auch hinsichtlich der Nicht-Übernahme der Kosten für die Unterkunft bestehen erhebliche Probleme für die Betroffenen. Einige haben aufgrund einer 100-%-Sanktionierung mit einer Räumungsklage zu kämpfen:

vgl. Grießmeier, Der disziplinierende Staat, 2012, S. 51.

Bei der Beantragung von Sachleistungen zur Kompensation sehen sich die Betroffenen einer nicht vertretbaren Situation ausgesetzt. Die Einlösung von Lebensmittelgutscheinen wird von den Betroffenen als demütigend erlebt. Sie suchen sich Geschäfte, in denen sie die kassierenden Personen nicht kennen, und wenig frequentierte Kassen. Dass die Kassierer häufig nicht wissen, wie mit den Lebensmittelgutscheinen umzugehen ist, wird als besonders diskriminierend erlebt:

vgl. Ames, Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen nach § 31 SGB II, 2009, S. 157.

Die psychischen Auswirkungen der Sanktionen sind massiv. Es kommt u. a. zu Schlafstörungen und Depressionen. Bereits die bloße Möglichkeit einer Sanktionierung belastet die Psyche stark:

vgl. Grießmeier, Der disziplinierende Staat, 2012, S. 48 f.

Oftmals wird auf die Situation der Sanktionierung dadurch reagiert, dass Rechnungen nicht beglichen werden:

vgl. Ames, Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen nach § 31 SGB II, 2009, S. 159.

Die Gefahr der Verschuldung ist hoch. Konsequenzen können dabei der Verlust des Bankkontos, Sperrung des Telefons und der Verlust des Wohnraums sein:

vgl. Grießmeier, Der disziplinierende Staat, 2012, S. 54 f.

Als Strategien zur Erlangung von Bargeld werden beschrieben: Betteln, Flaschensammeln, Hilfsarbeit an der Grenze zur Schwarzarbeit, finanzielle Unterstützung durch Familie und Freunde, Delinquenz, Kauf von billigen Wasserflaschen, um über das Pfand an Bargeld zu kommen:

vgl. Grießmeier, Der disziplinierende Staat, 2012, S. 54; Ames, Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen nach § 31 SGB II, 2009, S. 158.

Die Sanktionierung einer Person hat Auswirkungen auf die gesamte Bedarfsgemeinschaft. Dies ist bei der Miete für die Wohnung offenkundig, da der Mietanteil der sanktionierten Person wegfällt und von den anderen kompensiert werden muss. Bei unter-25-jährigen Leistungsberechtigten, die aufgrund des § 22 Abs. 5 SGB II in der familiären Bedarfsgemeinschaft leben, verschärft sich diese Situation noch. Die Konsequenzen bestehen regelmäßig darin, dass die anderen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft die sanktionierte Person mit ihren eigenen Regelleistungen bei ihren sonstigen Kosten unterstützen, um ihr Überleben und nicht zuletzt den gemeinsamen Wohnraum zu sichern. Dass eine personenbezogene Maßregelung so von Gesetzes wegen auf den Rest der Familie „abgewälzt“ wird, dürfte in vielen Fällen auch einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 GG begründen.

Vgl. dazu Geiger, Wie sind die personenübergreifenden Sanktionsfolgen auf der Grundlage der geltenden Fassung von § 31 SGB II zu verhindern?, info also 1/2010, S. 1 ff.; Däubler, info also 2/2005, S. 51 ff. (53).

Das Bemühen, noch weniger Geld auszugeben, hat zur Folge, dass die Betroffenen sich stärker isolieren und ihren Aktionsradius auf die eigene Wohnung fokussieren:

vgl. Ames, Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen nach § 31 SGB II, 2009, S. 160.

Da die Datenlage höchst ungenügend ist, kann davon ausgegangen werden, dass es sich bei den bisher gesammelten Fällen nur um einen geringen Teil der tatsächlich vorliegenden ähnlichen Vorkommnisse, sozusagen um die „Spitze des Eisbergs“ handelt.

Vgl. Grießmeier, Der disziplinierende Staat, 2012, S. 34 ff.

Die Folgen, die eine Sanktionierung mit sich bringen kann, sind jedenfalls massiv und betreffen existentielle Bereiche menschlichen (Über-)Lebens wie die Versorgung mit Lebensmitteln, die ärztliche Versorgung oder Existenz von Wohnraum. Die Betroffenen werden durch die Sanktionen gezwungen, sich sozial zu isolieren, ungesund zu ernähren und sind durch die Unterschreitung des Existenzminimums in ihrem physischen und psychischen Wohlbefinden derart eingeschränkt, dass ihre körperliche Unversehrtheit nicht mehr gewährleistet ist. Diese unverhältnismäßigen Folgen werden durch Sanktionen zumindest in Kauf genommen.

Nicht zuletzt handelt es sich um ein widersprüchliches Verhalten des Gesetzgebers zur vermeintlichen Erreichung eines einfachgesetzlichen sozialpolitischen Ziels („Fördern und Fordern“). Staatliches Handeln – in Form von Leistungskürzungen nach §§ 31 ff. SGB II – führt dazu, dass im Einzelfall nicht mehr kontrollierbare Zustände wie Krankheit, Hunger, Wohnungslosigkeit, Delinquenz herbeigeführt werden, für die am Ende zwangsläufig der öffentliche Haushalt einspringen muss. Die Übernahme von Mietschulden bei Hilfebedürftigen wird in § 22 Abs. 8 SGB II geregelt. Das bedeutet: Im Anschluss an eine auch die Kosten der Unterkunft betreffenden Sanktion, muss der Staat für dieselben Schulden zuzüglich angehäufter Zinsen, Mahngebühren und ggf. Räumungskosten aufkommen, die er durch die Nichtauszahlung seiner ALG-II-Leistung gerade hervorgerufen hat. Solche Sanktionen wären also bereits mit Blick auf die öffentlichen Haushalte unbedingt zu vermeiden.

 

cc) Zwischenergebnis

Der Eingriff in die Berufsfreiheit gemäß Art. 12 Abs. 1 GG ist daher nicht gerechtfertigt. § 31a i. V. m. §§ 31 Abs. 1 Nr. 2, 31b SGB II verstößt auch gegen Art. 12 Abs. 1 GG.

 

 

 

 

 

c)

Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG

Sanktionen nach § 31a i. V. m. § 31 und § 31b SGB II, verstoßen, wenn sie zu einer Lebensgefährdung oder Beeinträchtigung der Gesundheit der Sanktionierten führen, darüber hinaus gegen das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG.

 

aa) Schutzpflicht zur Gewährleistung von Leben und körperlicher Unversehrtheit

Wenn nämlich das Leben durch die Vorenthaltung lebensnotwendiger Mittel unmittelbar bedroht ist, ergibt sich aus dem Recht auf Leben ein Anspruch, vor dem Verhungern oder dem Erfrieren bewahrt zu werden, wenn die öffentliche Gewalt zurechenbar Kenntnis erlangt und sich ihr Handlungsmöglichkeiten bieten.

Vgl. Di Fabio – Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 67. Ergänzungslieferung 2013, Art. 2, Rn. 45; BVerwGE 1, 159 (161f.), 5, 27 (31).

So wie das Recht auf Leben den Staat verpflichtet, ggf. Schutzmaßnahmen für das menschliche Leben zu treffen, hat auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit eine Schutzpflichtendimension.

Vgl. Di Fabio – Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 67. Ergänzungslieferung 2013, Art. 2, Rn. 81.

Der Schutzbereich des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit umfasst unter anderem die Freiheit vor Verletzung der körperlichen Gesundheit und vor Schmerzen. Maßstab ist eine Zustandsbetrachtung des Körpers vor und nach einer bestimmten Ursache.

Vgl. Di Fabio – Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 67. Ergänzungslieferung 2013, Art. 2, Rn. 55 f.

Zwar begründet das Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG – anders als das unmittelbare Leistungsgrundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG – keine unmittelbaren Ansprüche des Einzelnen auf staatliche Leistungen oder auch nur auf eine im Allgemeinen angemessene Versorgung:

vgl. BVerwGE 1, 97 (104 f.); Di Fabio – Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 67. Ergänzungslieferung 2013, Art. 2, Rn. 94 f.

Doch hat das Bundesverfassungsgericht eine gewisse Schutzpflicht des Staates aus diesem Grundrecht gleichwohl anerkannt: Der objektivrechtliche Gehalt des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG enthalte die Pflicht des Staates, „sich schützend und fördernd vor die in Art. 2 Abs. 2 GG enthaltenen Rechtsgüter zu stellen“.

BVerfGE 56, 54 (73).

Demnach gibt es jedenfalls einen engen (Kern-)Bereich, in dem sich aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG (ggf. in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip) auch Leistungsansprüche für die Gesundheitsversorgung ableiten lassen.

Vgl. Seewald, Gesundheit als Grundrecht, 1982, S. 86.

 

bb) Schutzpflichtverletzung

Wie oben bereits ausgeführt, führen Leistungskürzungen immer wieder zu lebensbedrohlichen Situationen bei Sanktionierten.

Ein depressiver 20-jähriger Sanktionierter starb an Unterversorgung der Organe in seiner Wohnung. Die Mutter gab an, dass sie sich keine Nahrungsmittel hätten kaufen können:

http://www.sueddeutsche.de/panorama/speyer-arbeitsloser-verhungert-in-seiner-wohnung-1.666139 (abgerufen am 12.7.2013)

http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/arbeitsloser-in-speyerverhungert/835784.html (abgerufen am 12.7.2013)

Ein Sanktionierter musste in ein Krankenhaus wegen Unterernährung eingeliefert werden:

vgl. Grießmeier, Der disziplinierende Staat, 2012, S. 47 f.

100-%-Sanktionen ohne Sachleistungskompensation gemäß §§ 31 ff. SGB II können dazu führen, dass Beitragserstattungen für den Kranken- und Pflegeversicherungsschutz entfallen. Werden die Beiträge über zwei Monate nicht bezahlt, besteht nur noch ein Anspruch auf die „Notversorgung“ gem. § 16 Abs. 3a S. 2 1. HS SGB V und eine ärztliche Versorgung kann im Einzelfall nicht mehr gewährleistet sein.

Darüber hinaus entfällt bei Schwangeren der Mehrbedarf für Schwangerschaft und bei Personen mit bestimmten Krankheiten der Mehrbedarf für kostenaufwändige Ernährung.

Die gesundheitsschädlichen Folgen, die eine Sanktionierung mit sich bringen kann, ergeben sich aus der mangelhaften Versorgung mit Lebensmitteln, fehlender ärztlicher Versorgung, und der Gefährdung durch Obdachlosigkeit. Die Betroffenen werden durch die Sanktionen gezwungen, sich sozial zu isolieren, ungesund zu ernähren und sind durch die Unterschreitung des Existenzminimums in ihrem physischen und psychischen Wohlbefinden derart eingeschränkt, dass ihre körperliche Unversehrtheit und in einzelnen Fällen möglicherweise auch ihr Leben nicht mehr geschützt ist.

Die Situation für Sanktionierte, insbesondere „Vollsanktionierte“ kann bezüglich der Mittel zum physischen Überleben durchaus schlechter sein, als die von Strafgefangenen in Haftanstalten, die in der Regel eine ausgeglichene Ernährung und Taschengeld erhalten, auch wenn sie nicht zu einer Eigenfinanzierung imstande sind. Das in einer Straftat liegende „Unrecht“ geht augenscheinlich weit über das einer „Pflichtverletzung“ nach § 31 SGB II hinaus. Ebenso augenscheinlich liegt in einem (weitreichenden) Entzug der ALG-II-Leistung auf irgendeine wiederholte Handlung ohne ein irgendwie ersichtliches Eigen- und Fremdgefährdungspotential eine völlig unangemessene Gefährdung des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit der sich pflichtwidrig verhaltenden Hilfebedürftigen.

 

cc) Zwischenergebnis:

Sofern das zum Überleben Notwendige durch staatliches Verwaltungshandeln ausgleichslos gekürzt wird, liegt darin zusätzlich ein dem Staat zurechenbarer und unverhältnismäßiger Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG.

 

 

 

 

 

d)

Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG [diesen Punkt bei U-25-Jährigen streichen!]

§ 31a Abs. 2 i. V. m. §§ 31 ff. SGB II verletzt zudem den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG.

Dem Staat und seiner öffentlichen Gewalt ist es untersagt, wesentlich Gleiches willkürlich ungleich und wesentlich Ungleiches willkürlich gleich zu behandeln.

Vgl. BVerfGE 98, 365 (385).

 

 

aa) Ungleichbehandlung

Eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes setzt die Ungleichbehandlung von zwei vergleichbaren Sachverhalten voraus.

Vgl. Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 3, Rn. 7.

Die Sanktionsregelungen des § 31a Abs. 1 und 2 SGB II differenzieren zwischen Leistungsempfängern, die das 25. Lebensjahr vollendet haben, und solchen, die noch unter 25 Jahre sind. Dabei werden Unter-25-Jährige gemäß § 31a Abs. 2 SGB II bei Begehung von Pflichtverletzungen stärker sanktioniert als jene, die älter als 25 Jahre sind. Hier werden also zwei Vergleichsgruppen, die Unter-25-Jährigen und die Über-25-Jährigen, im Leistungsbezug ungleich behandelt. Durch die Ungleichbehandlung ergibt sich auch ein Nachteil für die Betroffenen, da die Regelungen für die Unter-25-Jährigen eine schnellere und stärkere Sanktionierung vorsehen.

Insoweit kommt es bei vergleichbaren Sachverhalten – den Pflichtverletzungen nach § 31 SGB II – zu einer ungleichen Behandlung, nämlich zur Differenzierung der Sanktionshöhe je nach Lebensalter.

 

bb) Keine verfassungsrechtliche Rechtfertigung

Diese Ungleichbehandlung ist nicht gerechtfertigt.

Sie kann nur durch einen „hinreichend gewichtigen Grund“ gerechtfertigt sein:

vgl. BVerfGE 100, 138 (174), Jarass, in: Jarass/Pieroth, Art. 3, Rn. 14.

Bei einer Ungleichbehandlung von Personengruppen gelten besonders strenge Maßstäbe:

„Da der Grundsatz, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, in erster Linie eine ungerechtfertigte Verschiedenbehandlung von Personen verhindern soll, unterliegt der Gesetzgeber bei einer Ungleichbehandlung von Personengruppen regelmäßig einer strengen Bindung.“

BVerfGE 95, 267 (316).

Nach der Willkürformel liegt eine Ungleichbehandlung vor, „wenn sich für eine gesetzliche Regelung kein sachlicher Grund finden lässt und sie deshalb als willkürlich zu bezeichnen ist“.

Jarass, Art. 3, Rn. 26.

Dies ist der Fall, wenn eine gesetzliche Regelung evident unsachlich gleich oder ungleich behandelt:

vgl. Osterloh, Sachs, Art. 3, Rn. 9.

Die Altersgrenze von 25 Jahren ist willkürlich. Ohne sachliche Begründung wird eine Grenze ausgerechnet bei 25 Jahren gezogen. Unterhalb dieses Alters werden die in § 31 SGB II aufgeführten Pflichtverletzungen härter bestraft. Dabei stimmen die „Pflichten“ der Unter-25-Jährigen mit denen der Über-25-Jährigen überein. Das gleiche Verhalten führt damit zu unterschiedlichen Ergebnissen, je nachdem, ob es vor oder nach dem 25. Geburtstag erfolgt.

Das Bundesverfassungsgericht hat die unterschiedliche Behandlung von Personengruppen beim Bezug von Arbeitslosengeld I (Leistungskürzung wegen Meldeversäumnissen) bereits 1987 mit Hinweis auf den Gleichheitsgrundsatz für unzulässig erklärt:

„Beide Personenkreise [Leistungsbezieher mit und ohne „wichtigen Grund“, d. Verf.] unterscheiden sich nicht so erheblich voneinander, daß die beanstandete Regelung vertretbar wäre. Der allgemeine Gleichheitssatz wird verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten (vgl. BVerfGE 71, 146 (154) = NJW 1986, 709).“

BVerfG, 10.02.1987 - 1 BvL 15/83, NJW 1987, 1929 f. (1930).

Dies muss erst recht bei denjenigen Bedürftigen gelten, denen nicht nur ein ähnliches, sondern das gleiche Versäumnis zur Last gelegt wird.

Es sind zwischen den Gruppen der Über- und Unter-25-Jährigen keine Unterschiede ersichtlich, die nach Art und Gewicht eine solche Differenzierung rechtfertigen könnten. Es kann kaum angenommen werden, dass junge Erwachsene ausgerechnet exakt bis zum 25. Geburtstag eher zu pflichtwidrigem Verhalten neigen.

In anderen Rechtsbereichen gibt es zwar auch pauschale Differenzierungen nach Altersgruppen. Im Zivilrecht wird bezüglich der Geschäftsfähigkeit eine Grenze bei Volljährigkeit gezogen. Dem Strafrecht wiederum ist es eigen, über die Anwendung von Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht zu entscheiden. Hier liegt die Altersgrenze grundsätzlich ebenfalls bei Volljährigkeit. In beiden Fällen wird jedoch anhand der mangelnden Reife/Einsichtsfähigkeit und damit anhand einer Eigenschaft differenziert, die eng mit dem zu regelnden Rechtsgebiet zusammenhängt. Das junge Alter führt zudem in beiden Fällen stets zu einer Besserstellung der Kinder und Jugendlichen. Die mangelnde Unrechtseinsicht von Heranwachsenden kann im Strafrecht noch bis zum 21. Lebensjahr zu einer Besserbehandlung führen, die Entscheidung darüber obliegt einem Gericht in jedem Einzelfall. Im SGB II verhält es sich andersherum: Ohne nähere Prüfung werden Betroffene aufgrund ihres Alters pauschal schlechter gestellt.

Hinzu kommt, dass der Gesetzgeber sich bei der Leistungsgewährung des SGB II im Bereich der Leistungen zur Deckung des Existenzminimums bewegt. Dafür hat das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung vom 18.7.2012 zusätzliche Maßstäbe auch im Hinblick auf die unterschiedliche Behandlung von Personengruppen gelegt. Danach ist eine unterschiedliche Behandlung zwar nicht per se unzulässig, es ist aber auch in diesem Zusammenhang entscheidend,

„dass der Gesetzgeber seine Entscheidung an den konkreten Bedarfen der Hilfebedürftigen ausrichtet. [Hervorh. d. Verf.]

BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 93.

Ausdrücklich formuliert das Bundesverfassungsgericht:

„Werden hinsichtlich bestimmter Personengruppen unterschiedliche Methoden zugrunde gelegt, muss dies allerdings sachlich zu rechtfertigen sein. [...] Eine Differenzierung ist nur möglich, sofern deren Bedarf an existenznotwendigen Leistungen von dem anderer Bedürftiger signifikant abweicht und dies folgerichtig in einem inhaltlich transparenten Verfahren anhand des tatsächlichen Bedarfs gerade dieser Gruppe belegt werden kann.“ [Hervorh. d. Verf.]

BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 97, 99.

Der Bedarf von Unter-25-Jährigen ist durch den Gesetzgeber aber gerade nicht gesondert berechnet, sondern aufgrund bloßer Mutmaßungen über den angeblich erzieherischen Effekt eingeführt worden.

Die Ungleichbehandlung soll nämlich dem Ziel dienen, bei jungen Erwerbsfähigen einer Langzeitarbeitslosigkeit von vornherein entgegenzuwirken und diesen Personenkreis besonders zu „fördern“:

vgl. Bundestags-Drucksache 15/15165, S. 61.

Doch die Regelungen sind dazu schon nicht geeignet. Es gibt nämlich keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass eine stärkere Disziplinierung tatsächlich zu einer besseren Integration in den Arbeitsmarkt führt. Vorliegende Studien sprechen sogar eher für eine gegenteilige Wirkung:

vgl. Berlit, Handbuch Existenzsicherungsrecht, 2013, Kapitel 23 (Sanktionen), Rn. 21 m. w. N.

Ein besonderes Förderungselement durch Sanktionierung ist ebenfalls nicht plausibel. Es kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass Unter-25-Jährige einer schärferen Sanktionierung bedürfen, weil sie sonst das gerügte Verhalten nicht änderten.

Vgl. Berlit, Das neue Sanktionensystem, ZFSH/SGB 2006, S. 16 f.

Die schärferen Sanktionen für Unter-25-Jährige sind darüber hinaus auch nicht erforderlich.

Vgl. Lauterbach, Verfassungsrechtliche Probleme der Sanktionen im Grundsicherungsrecht, ZFSH/SGB 2011, S. 587.

Für eine bessere Unterstützung der Unter-25-Jährigen wäre es stattdessen möglich und zielführender, eine bessere Betreuung und Fort- und Weiterbildung sowie Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen oder zumindest einheitliche Ausbildungsstandards zu gewährleisten.

Darüber hinaus scheitern die Regelungen an der Angemessenheit. Die Ungleichbehandlung ist nicht verhältnismäßig. Der Rechtfertigungsgrund müsste, um verhältnismäßig zu sein, in angemessenen Verhältnis zu dem Grad der Ungleichbehandlung“ stehen.

BVerfGE 102, 68 (87); Jarass, Art. 3, Rn. 27.

Die Folgen für die Unter-25-Jährigen sind jedoch enorm. Diesbezüglich kann auf die bereits skizzierten Folgen von Sanktionen verwiesen werden. Diese verheerenden Auswirkungen auf nahezu alle Bereiche des täglichen Lebens treffen Unter-25-Jährige schneller und umfassender und noch dazu regelmäßig in der ersten Zeit eigenständiger Lebensführung. Sie stehen in keinem angemessenen Verhältnis zu dem vorgeblichen Zweck einer schnelleren Arbeitsmarkteingliederung.

An dieser Einschätzung der Verfassungswidrigkeit der härteren Sanktionen für Unter-25-Jährige besteht – im Gegensatz zur grundsätzlichen Auffassung zu Sanktionen,

zum Meinungsstand diesbezüglich s. Anhang

weitreichende Übereinstimmung in der rechtswissenschaftlichen Literatur:

vgl. Berlit, Handbuch Existenzsicherungsrecht, 2013, Kapitel 23 (Sanktionen), Rn. 83, ders., ZFSH/SGB 2008, 3 (15) und ZfSH/SGB 10/2012, S. 561 ff. (576);  Davilla, Die schärferen Sanktionen im SGB II für Hilfebedürftige unter 25 Jahren – ein Plädoyer für ihre Abschaffung, in: SGb 2010, 557, 559; Breitkreuz/Wolff-Dellen, SGb 2006, 206 (210); Lauterbach, NJ 2008, 241 (247); Lauterbach in: Spellbrink, Das SGB II in der Praxis der Sozialgerichte – Bilanz und Perspektiven, 2010, S. 11 (35 f.); Winkler in: Gagel, Stand 4/2010, § 31 SGB II, Rn. 174; Rixen in: Eicher/Spellbrink, 2. Aufl. 2008, § 31 SGB II, Rn. 53; Loose, ZfSH/SGB 2010, 340 (346).

Zuletzt hat sich der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge für eine rasche Abschaffung der Ungleichbehandlung ausgesprochen:

vgl. Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge, 11.6.2013, DV 26/12 AF III, S. 6 ff.

 

cc) Zwischenergebnis

Die schärferen Sanktionen für Unter-25-Jährige nach § 31a Abs. 2 i. V. m.  § 31, § 31b SGB II verletzen zusätzlich den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG

 

 

 

3.

Verfassungskonforme Auslegung

Die Leistungskürzungen nach § 31a i. V. m. § 31, 31b, 32 SGB II sind unter keinen erdenklichen Gesichtspunkten verfassungskonform auslegbar.

 

 

 

 

a)

Allgemeine Auslegungsgrundsätze

Eine Norm kann durch das Bundesverfassungsgericht nur dann für nichtig erklärt werden, wenn keine nach anerkannten Auslegungsgrundsätzen zulässige und mit der Verfassung zu vereinbarende Auslegung möglich ist:

vgl. nur BVerfGE 118, 212 (234); BVerfGE 49, 148 (157).

Die verfassungskonforme Auslegung als normbewahrendes Instrument ist Aufgabe aller Gerichte.

Vgl. Bethge in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Bundesverfassungs-gerichtsgesetz, 39. Ergänzungslieferung 2013, § 31bVerfGG, Rn. 258 f. m. w. N.

Lassen Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Gesamtzusammenhang und Sinn und Zweck einer gesetzlichen Regelung mehrere Deutungen zu, von denen jedenfalls eine zu einem verfassungsgemäßen Ergebnis führt, muss eine Auslegung vorgenommen werden, die mit dem Grundgesetz in Einklang steht:

vgl. BVerfGE 69, 1 (55); 95, 64 (93).

Die verfassungskonforme Auslegung darf sich dabei aber nicht über die gesetzgeberischen Intentionen hinwegsetzen. Sie findet ihre Grenzen dort, wo sie zu dem Wortlaut und zum klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch treten würde:

vgl. ständige Rspr., insb. BVerfGE 99, 341 (358); 101, 312 (329); 101, 397 (408); 119, 247 (274).

Gesetzgeberische Grundentscheidungen dürfen nicht angetastet werden. Einem eindeutigen Gesetz darf nicht ein entgegengesetzter Sinn gegeben werden. Es ist nicht Sache der Rechtsprechung, ein Gesetz derart auf eine verfassungsgemäße Fasson zurechtzustutzen, dass der Gesetzgeber es nicht wiedererkennt. Die verfassungskonforme Auslegung darf nicht zu einer verdeckten Normreformation führen:

vgl. BVerfGE 67, 299 (329); 95, 64 (93); 99, 341 (358); 118, 212 (234); BVerfGE 63, 131 (147 f.); Korioth – Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 9. Auflage 2012, 5. Teil, Rn. 449; Bethge in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 39. Ergänzungslieferung 2013, § 31bVerfGG, Rn. 265.

Daher sind es in erster Linie unbestimmte Rechtsbegriffe, die eine Auslegung und wertende Konkretisierung durch Verwaltung und Gerichte erfordern und zulassen.

Vgl. Aschke in: Bader/Ronellenfitsch, Beck'scher Online-Kommentar VwVfG, Stand: 1.4.2013, § 40, Rn. 24.

 

 

 

 

b)

Keine verfassungskonforme Auslegung des § 31 a Abs. 1 und 2 SGB II

Bei Leistungskürzungen nach § 31a, § 31b, § 32 SGB II [ggf. § 32 streichen!] kommt eine verfassungskonforme Auslegung nicht in Betracht, weil sie contra legem wäre.

Der Wortlaut des § 31a Abs. 1 und 2 SGB II und des § 32 SGB II [ggf. § 32 streichen!] ist eindeutig, entspricht der in der Gesetzesbegründung offengelegten Absicht des Normgebers und lässt keinen Beurteilungsspielraum zu.

Einzige Tatbestandsvoraussetzung für eine Sanktion ist eine Pflichtverletzung nach § 31 SGB II. Der in § 31 Abs. 1 S. 2 SGB II normierte unbestimmte Rechtsbegriff des „wichtigen Grundes" kommt nicht als Abwägungskriterium in Betracht, da er nur zur Definition der Pflichtverletzung führt, die anschließende Rechtsfolge sich aber allein nach § 31a SGB II bestimmt. Eine Pflichtverletzung nach § 31 SGB II muss erst festgestellt sein, bevor § 31a Abs. 1 und 2 SGB II zur Anwendung kommt. Im Anwendungsbereich der Sanktionsnorm gibt es somit überhaupt keine Entscheidungsmöglichkeit für die Verwaltung mehr.

Auch ist die Definition des „wichtigen Grundes“ bereits detailliert von der Rechtsprechung (durch eine Analogie zum SGB III) vorgenommen worden. Als wichtige Gründe gelten alle Umstände des Einzelfalls, die unter Berücksichtigung der berechtigten Interessen des Leistungsberechtigten in Abwägung mit etwa entgegenstehenden Belangen der Allgemeinheit das Verhalten des Hilfebedürftigen rechtfertigen.

Vgl. Knickrehm - Kreikebohm, Kommentar zum Sozialrecht, 2. Auflage 2011, Rn. 24; BSG 9.11.2010 – B 4 AS 27/10 R; vgl. auch Mutschler, § 144 SGB III; ABC des wichtigen Grundes bei Winkler in: Gagel, § 144 SGB III-Anhang; ähnlich Valgolio in: Hauck/Noftz SGB II, § 11 Rn. 74; zum SGB III BSG, 12.7.2006 – B 11 a AL 55/05 R.

Die Tatbestände des § 31 SGB II entfallen nur, wenn der erwerbsfähige Leistungsberechtigte einen wichtigen Grund für sein Verhalten darlegt und nachweist. Wichtige Gründe können z. B. im beruflichen oder persönlichen Bereich des erwerbsfähigen Leistungsberechtigten liegen. Ein wichtiger Grund muss jedoch objektiv vorliegen,

vgl. BSG NJW 2011, 2073, 2076; Berlit in: ZfSH/SGB 2008, 1 ff., 6; Sonnhoff in juris-PK SGB II, Stand 15.8.2011, § 31 Rn. 104; Valgolio in: Hauck/Noftz, SGB II, Stand 11/2011, § 31 Rn. 167; Knickrehm/Hahn in: Eicher, SGB II, 3. Auflage 2013, Rn 63 ff.

Diese Definition bietet gerade keinen Raum für eine rechtsfolgenbezogene Abwägung derart, dass etwa auch die unverhältnismäßigen Folgen einer Sanktion den Tatbestand entfallen lassen könnten.

Auch auf Rechtsfolgenseite findet sich bei § 31a ff. SGB II kein unbestimmter Rechtsbegriff. Im Unterschied zu § 1a AsylbLG sowie zur früheren Vorschrift des § 25 BSHG findet durch §§ 31a, 32 SGB II keine Absenkung der Leistung auf das „nach den Umständen unabweisbar Gebotene“ bzw. das „zum Lebensunterhalt Unerlässliche“ statt, sondern es werden exakte prozentuale Leistungskürzungen (Sanktionsstufen) vorgegeben: um 10 % bzw. 30 %, 60 %, 100 % sowie das völlige Entfallen des ALG-II-Anspruchs inklusive der Kosten für Krankenkasse und für Unterkunft und Heizung.

Auch hinsichtlich der Verhängung einer Sanktion sowie bezüglich der Dauer einer Leistungskürzung ist kein Ermessen der Verwaltung (z. B. durch Einzelfallprüfung oder Härtefallklausel) vorgesehen. § 31a SGB II etabliert sie vielmehr als zwingende Rechtsfolge ohne Ausnahmetatbestände. § 31b Abs. 1 S. 3 SGB II sieht zusätzlich eine starre Dauer des Minderungszeitraums von drei Monaten vor, einzig bei Unter-25-Jährigen kann er auf (wiederum starre) sechs Wochen reduziert werden.

An diese strikten gesetzlichen Vorgaben ist die Verwaltung aufgrund des Vorrangs des Gesetzes und sind auch die überprüfenden Gerichte in jedem Einzelfall gebunden. Eine Möglichkeit, durch eine Einzelfallabwägung eine Sanktion nicht zu verhängen oder diese aufgrund von Verhältnismäßigkeitserwägungen zu reduzieren

(zu dieser Möglichkeit bei Kürzungen des alten § 25 BSHG vgl. BVerwG, V C 109.66 vom 31.1.1968),

ist im SGB II nicht vorgesehen. Ausdrücklich wird durch § 21 b Abs. 2 SGB II auch das Ausweichen auf Leistungen des SGB XII verwehrt.

Eine Auslegung, die dazu führte, dass trotz Einschlägigkeit der §§ 31a ff. SGB II keine verminderten, sondern reguläre Leistungen entrichtet werden könnten (wie sie durch einige Gerichte im Bereich des § 1a AsylbLG erfolgt) wäre daher offensichtlich unzulässig.

Sie wird – soweit ersichtlich – auch weder in der Literatur noch in der Rechtsprechung vertreten.

 

 

 

 

c)

Keine verfassungskonforme „Anwendung“ durch § 31 a Abs. 3 SGB III

Im Bereich der Sanktionen zwischen 30 % und 100 % lässt sich ebenfalls keine verfassungskonforme Auslegung erreichen. Insbesondere durch ein Zusammenspiel der § 31a Abs. 1 SGB II i. V. m. § 31a Abs. 3 SGB II ist keine Verfassungskonformität herstellbar.

Eine Einzelfallentscheidung der Verwaltung über die Vergabe von Sachleistungen kann bereits per se unmöglich einen Verfassungsverstoß beheben, der in einer anderen, sie bedingenden Rechtsnorm selbst begründet liegt.

Eine solche „verfassungskonforme Anwendung“ durch Zusammenlesen der Sanktionsnormen mit der Sachleistungsregelung des § 31a Abs. 3 SGB II wird jedoch in der Literatur zum Teil propagiert:

vgl. z. B. Davilla, SGb 2010, 557, 559 und Lauterbach, ZFSH/SGB 2011, 584, 585; auch Stellungnahme des DRB zur öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestags vom 6.6.2011, Nr. 3. Annahme einer Verfassungswidrigkeit insoweit: Richers/Köpp, DÖV 2010, 997, 1003 f.

Auch in der Rechtsprechung wird diese „Lösung“ zur Anwendung der Sanktionsnormen offenbar vertreten, z. B. indem Sanktionen um 100 % für verfassungswidrig gehalten werden, sofern der Grundsicherungsträger nicht zugleich ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen gewährt[Hervorh. d. Verf.],

so SG Berlin vom 19.8.2009 – S 26 AS 5380/09, juris Rn. 29 f., im Anschluss an Landessozialgericht Berlin 10. Senat vom 16.12.2008 - L 10 B 2154/08 AS ER-, Rn. 10); vgl. auch LSG Niedersachsen, Beschluss vom 21.4.2010 – L 13 AS 100/10 B ER, Rn. 7 f.

Doch zum einen bleibt die Sanktion in Höhe von mindestens 30 % in allen darüber liegenden Sanktionsfällen trotz der Sachleistungsvergabe bestehen. Eine Kompensation durch Sachleistungen kommt überhaupt nur bei Sanktionen ab 40 % (bis zu einer Höhe von ca. 46 % des Regelbedarfs) in Betracht. Da nach dem Gesetzgeber allein der volle Regelsatz das menschenwürdige Existenzminimum sicherstellt (100 % des Regelbedarfs, eventueller Mehrbedarfe und der Kosten für Unterkunft und Heizung nach §§ 20 ff. SGB II), scheidet eine verfassungskonforme Anwendung bereits aus diesem Grund aus.

Zum anderen ist in diesen Fällen die Gewährleistung von Sachleistungen von der Antragstellung durch den Betroffenen abhängig. D. h., es braucht ein aktives Verhalten des (meist gerade aufgrund seiner fehlenden Aktivität sanktionierten) Bedürftigen als Zwischenschritt, um überhaupt eine Kompensationsmöglichkeit zu erreichen. Selbst dann liegt die Bewilligung der Sachleistungen noch im Ermessen der Verwaltungsbehörde.

Das in § 31a Abs. 3 S. 1 SGB II festgelegte Ermessen bei der Sachleistungsgewährung, wonach „der Träger auf Antrag in angemessenem Umfang ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen erbringen (kann)“ [Hervorh. d. Verf.], lässt sich schwerlich als gebundene Entscheidung lesen.

Eine solche Auffassung, das „kann“ im Gesetzestext als „muss“ auszulegen, widerspräche dem eindeutigen Wortlaut der Norm und überschreitet damit die Grenze zulässiger Auslegung.

Außerdem hat der Gesetzgeber eine Ermessenregelung gerade beabsichtigt. Denn nach § 31a Abs. 3 S. 2 SGB II „hat“ der Träger in Fällen, in denen minderjährige Kinder im Haushalt des Bedürftigen leben, die Leistungen zu erbringen. Hier wurde der Verwaltung vom Gesetzgeber also in bewusstem Gegensatz zum Vorsatz kein Ermessenspielraum zugestanden. Dem entspricht die Gesetzesbegründung, in der explizit festgehalten wurde, dass die „Erbringung von Sachleistungen an Bedarfsgemeinschaften mit minderjährigen Kindern als Verpflichtung zur Leistungserbringung“ [Hervorh. d. Verf.] auszugestalten sei.

Bundestags-Drucksache 17/3404, S. 112.

Daraus ergibt sich im Umkehrschluss, dass eine zwingende Sachleistungsvergabe eben gerade nicht für die übrigen Haushalte gelten sollte.

Eine Ermessensreduzierung auf Null bei der Sachleistungsvergabe zumindest im Fall einer 100-%-Sanktion anzunehmen – wie in der Literatur und Rechtsprechung zum Teil befürwortet – scheidet gleichfalls aus. Sie könnte ebenfalls lediglich zur Abmilderung der (von Grund auf verfassungswidrigen) Folgen einer hohen Leistungskürzung führen, den Verfassungsverstoß selbst jedoch nicht beseitigen.

Ebenso scheidet es aufgrund des eindeutigen Wortlauts („auf Antrag“) aus, in diesen Fällen Sachleistungen etwa ohne Antrag zu gewähren.

Auch die Gewährung staatlicher Leistungen über „Umwege“ durch kompensatorische Zuschläge an die übrigen Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft

(vgl. zu diesem Vorschlag Geiger, info also 1/2010, S. 1 ff. (9)),

würde bloß zu einer Umgehung der unmissverständlichen gesetzlichen Regelung führen.

Wenn das Verwaltungshandeln jedoch nur dann das Existenzminimum sicherstellt, wenn es gerade nicht auf Grundlage sondern entgegen einer leistungskürzenden Rechtsnorm Leistungen gewährt, kann es offensichtlich nicht zu einer verfassungskonformen Auslegung der leistungskürzenden Rechtsnorm führen. Im Gegenteil ist dann in Wirklichkeit deren Nichtanwendung im Einzelfall die Voraussetzung für die Sicherstellung des menschenwürdigen Existenzminimums.

Die an dieser Stelle lediglich angedeuteten, teilweise geradezu akrobatischen „Lösungen“ der rechtswissenschaftlichen Literatur zur verfassungskonformen Auslegung der Sanktionsnormen laufen im Ergebnis allesamt auf die Aufrechterhaltung bestimmter notwendiger Leistungen trotz des tatbestandlichen Eingreifens der §§ 31a ff. SGB II hinaus. Sie führen damit zu einer Umgehung des Wortlauts der Norm und laufen der gesetzgeberischen Intention zuwider, die gerade in der engen und ausnahmslosen Verknüpfung der staatlichen Leistungsgewährung mit Pflichten des Hilfebedürftigen liegt und damit bewusst von den individuellen Bedarfen der Sanktionierten abstrahiert.

 

 

 

 

d)

Zwischenergebnis

Nach alledem scheidet eine verfassungskonforme Auslegung der streitgegenständlichen Normen aus.

 

 

 

4.

Ergebnis

§ 31a i. V. m. § 31 und § 31b SGB II sowie § 32 SGB II [§ 32 ggf, streichen!] verstoßen gegen Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG, Art. 3 Abs. 1 GG, Art. 12 Abs. 1 GG und sind verfassungswidrig. Sie sind nicht verfassungskonform auslegbar.

Das Gericht hat das Verfahren gemäß Art. 100 Abs. 1 GG i. V. m. § 80 Abs. 1 BVerfGG auszusetzen und dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorzulegen, ob die §§ 31, 31a, 31b, 32 SGB II vereinbar sind mit dem Grundgesetz, insbesondere mit Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG, Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG und Art. 3 Abs. 1 GG. [bei Ü-25-Sanktionen Art. 3 bitte streichen!]

 

 

 

 

 

 

 

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ANHANG:

 

 

Meinungsstand in Literatur und Rechtsprechung

In der Literatur und in der Rechtsprechung ist die Frage der Verfassungskonformität von Leistungskürzungen nach §§ 31 ff. SGB II bzw. die Möglichkeit der verfassungskonformen Auslegung und Anwendung der einzelnen Sanktionstatbestände z.T. heftig umstritten

 

 

 

1.

Grundsätzliche Kritik an Leistungskürzungen nach dem SGB II

Sanktionen werden von Juristen, Sozialarbeitern und Politikern verschiedener Parteien seit Jahren zum Teil aufs Heftigste kritisiert. Sie werden in erster Linie für politisch verfehlt bzw. nicht sachdienlich gehalten:

Vgl. nur Götz/Ludwig-Mayerhofer/Schreyer, Sanktionen im SGB II - Unter dem Existenzminimum, IAB-Kurzbericht 10/2010; Bündnis für ein Sanktionsmoratorium: http://www.sanktionsmoratorium.de/pdfs/aufruf_lang_web.pdf; Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Reform der Sanktionen im SGB II, Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge, 11.6.2013, DV 26/12 AF III; Ames, Anne, Ursachen und Auswirkungen von Sanktionen nach § 31 SGB II, 2009, S. 12 ff.; Grießmeier, Nicolas, Der disziplinierende Staat, 2012, S. 40 ff.; Niedersachsen kündigt Bundesratsinitiative zum Sanktionsstopp an: http://www.paz-online.de/Nachrichten/Politik/Niedersachsen/Niedersachsen-fordert-Stopp-von-Hartz-IV-Strafen;  Antrag der LINKEN auf Abschaffung der Sanktionen: dipbt.bundestag.de/dip21/btd/17/051/1705174.pdf; Position der GRÜNEN: http://www.gruene-bundestag.de/parlament/bundestagsreden/2013/april/hartz-iv-sanktionen_ ID_4388231.html. (Links abgerufen am 12.7.2013)

Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9.2.2010 wurde in der rechtswissenschaftlichen Literatur auf die verfassungsrechtliche Problematik von Sanktionen im SGB II hingewiesen.

So bemerkte Rixen als Reaktion auf die BVerfG-Entscheidung:

„Trotz der vergleichsweise knapp bemessenen Zeit empfiehlt es sich für den Gesetzgeber zu prüfen, ob die Absenkungsregeln des § 31 SGB II dem Grundrecht auf Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums standhalten.“ [Hervorh. d. Verf.]

Rixen, in: SGb 2010, 240-245 (245); vgl. derselbe in: Fordern oder Fördern? Rechtliche Grenzen der Arbeitsmarktpolitik durch Sanktionen, in: Transmission 05, 2011, Wege aus dem Abseits: Sanktionen und Anreize in der Sozialpolitik, S. 32 ff. (51).

Er stellte die Frage: „Darf die Sanktion so weit gehen, dass das Existenzminimum nicht mehr gesichert ist?“ [...] Wenn aber die Leistungen durch eine Sanktion nach § 31 SGB II ‚auf Null` abgesenkt werden, dann ist evident nichts mehr da, dann ist das Existenzminimum nicht beziehungsweise kaum noch gesichert; sieht man einmal davon ab, dass der Leistungsträger nach Ermessen noch bestimmte Leistungen erbringen kann, etwa bei den unter 25-Jährigen für Unterkunft und Heizung.“

Rixen, Stephan, in: Fordern oder Fördern? Rechtliche Grenzen der Arbeitsmarktpolitik durch Sanktionen, in: Transmission 05, 2011, Wege aus dem Abseits: Sanktionen und Anreize in der Sozialpolitik, S. 32 ff. (51 f.)

Angermeier kommentierte das Urteil des Bundesozialgerichts vom 9.11.2010 vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit folgenden Worten:

„Die Aussage des BSG, es bedürfe in einem Fall der Absenkung bzw. Minderung des Arbeitslosengeld II wie hier für vier Monate um 20 v. H. bzw. 30 v. H. der maßgebenden Regelleistung keiner weiteren Prüfung eines Verstoßes gegen verfassungsrechtliche Normen, wenn der Grundsicherungsträger zeitgerecht ergänzende Sachleistungen in angemessenem Umfang angeboten habe, die von den Hilfebedürftigen auch in Anspruch genommen worden seien, wird dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG) womöglich nicht gerecht. [...] Die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit kommen nicht umhin, sich ihrer Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) bewusst zu werden und gewissenhaft zu prüfen, ob in einem bei ihnen anhängigen Verfahren, bei dem die §§ 31 ff. SGB II eine Rolle spielen, nicht eine Vorlage an das BVerfG (Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG) angezeigt ist.“ [Hervorh. d. Verf.]

Angermeier, Anmerkung zu Urteil des BSG vom 9.11.2010 - B 4 AS 27/10 R, in: jurisPR-SozR 6/2012 Anm. 2.

In der rechtswissenschaftlichen Literatur sind diverse Versuche unternommen worden, die Verfassungswidrigkeit der Sanktionsregelungen im Detail zu belegen.

Vgl. z. B. Däubler: Absenkung und Entzug des ALG II – ein Lehrstück zur Verfassungsferne des Gesetzgebers, in: info also, 2/2005, S. 51 ff.; RA Mundt, Hartz IV – Rechtsprobleme des SGB II und seiner Anwendung, Expertise im Auftrag der Bundestagsfraktion DIE LINKE, 2008, S. 25 ff.

Grießmeier forderte bereits 2009 aufgrund eines Verstoßes gegen „Art. 20 in Verbindung mit Art. 1 Soziokulturelles Existenzminimum“ eine entsprechende Verfassungsbeschwerde:

Vgl. Grießmeier, Der disziplinierende Staat, S. 62 ff.

Nešković/Erdem formulieren grundsätzliche verfassungsrechtliche Kritik am bestehenden System der Sanktionen nach den §§ 31 ff. SGB II. Ausgehend von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9.2.2010, halten sie jede Kürzung der Regelsätze durch die Verwaltung für einen unzulässigen Eingriff in das (durch den Gesetzgeber mit dem RBEG konkretisierte) Grundrecht auf Zusicherung des menschenwürdigen Existenzminimums:

Nešković/Erdem, Zur Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei Hartz IV – Zugleich eine Kritik am Bundesverfassungsgericht, in: SGb 2012, S. 134 ff.; dieselben, Für eine verfassungsrechtliche Diskussion über die Menschenwürde von Hartz-IV-Betroffenen, in: SGb 2012, 326 ff.

 

 

 

2.

Die Rechtsprechung zu § 1 a AsylbLG

Dieser verfassungsrechtlichen Argumentation sind infolge der Entscheidung des BVerfG vom 18.7.2012 nicht nur Teile der Literatur,

vgl. Classen/Kanalan, Verfassungsmäßigkeit des Asylbewerberleistungsgesetzes, in: info also 06/2010, S. 243 – 249,

sondern auch eine Reihe von Sozialgerichten und Landessozialgerichten gefolgt – im Bereich der Sanktionen im Asylbewerberleistungsgesetz (§ 1a AsylbLG).

Im Anschluss an das SG Altenburg, S 21 AY 3362/12 ER und das SG Lüneburg, S 26 AY 4/11, hat das Sozialgericht Düsseldorf am 19.11.2012 erkannt:

„Die nicht zu unterschreitende Grenze einer Anspruchseinschränkung ist [...] das verfassungsrechtlich garantierte Existenzminimum gem. Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG zur Führung eines menschenwürdigenden Lebens [...] Dies gilt ebenfalls für das soziokulturelle Existenzminimum.“ [Hervorh. d. Verf.]

SG Düsseldorf, Beschluss vom 19.11.2012, S 17 AY 81/12 ER, juris Rn. 10.

Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen hat am 24.4.2013 ausgeführt, die nähere Charakterisierung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums durch das BVerfG erscheine „in einer Weise unmissverständlich und insbesondere vorbehalt- bzw. bedingungslos (vgl. o.), dass für Leistungsabsenkungen auf ein Niveau unterhalb von das Existenzminimum sichernden Leistungen kein Raum bleibt […] Denn bietet Art. 1 Abs. 1 i.Vm. Art. 20 Abs. 1 GG - so ausdrücklich das BVerfG (vgl. a.a.O. Rn. 90 und 129) - eine einheitliche grundrechtliche Garantie auf die zur Wahrung eines menschenwürdigen Existenzminimums notwendigen materiellen Voraussetzungen, so lässt dies keinen Raum für eine Reduzierung des Grundrechts auf einen Kernbereich der physischen Existenz. [...] Auch ein weiter Gestaltungsspielraums erlaubt jedoch nicht eine Leistungsgewährung unterhalb des vom Gesetzgeber selbst als derzeit anzuerkennen festgelegten Existenzminimums.“ [Hervorh. d. Verf.]

Landessozialgericht NRW, L 20 AY 153/12 B ER, 24.4.2013, Rn. 53 ff.

Eine beachtliche Anzahl von Sozial- und Landessozialgerichten wenden mittlerweile die Vorschrift des § 1a AsylbLG (Leistungskürzung aufgrund missbräuchlicher Einreise oder mangelnder Mitwirkung an aufenthaltsbeendenden Maßnahmen) – durch eine dort mögliche „verfassungskonforme Auslegung“ – de facto nicht mehr an. Einige geben bereits im einstweiligen Rechtsschutz (!) den Klägern Recht und halten eine Kürzung „nach § 1a AsylbLG auf ein Niveau unterhalb des Existenzminimums“ für unzulässig oder halten die Zulässigkeit zumindest für offen:

vgl. LSG NRW, L 20 AY 153/12 B ER, 24.4.2013, Rn. 45, 53 mit Verweis auf LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 6.2.2013 - L 15 AY 2/13 B ER; SG Lüneburg, Beschluss vom 13.12.2012 - S 26 AY 26/12; SG Düsseldorf, Beschluss vom 19.11.2012 - S 17 AY 81/12 ER; SG Altenburg, Beschluss vom 11.10.2012 - S 21 AY 3362/12 ER; SG Köln, Beschluss vom 25.1.2013 - S 21 AY 6/13 ER; SG Leipzig, Beschluss vom 20.12.2012 - S 5 AY 55/12 ER; SG Gelsenkirchen, Beschluss vom 21.1.2013 - S 32 AY 120/12; SG Magdeburg, Beschluss vom 24.1.2013 - S 22 AY 25/12 ER; SG Stade, Beschluss vom 28.1.2012 - S 19 AY 59/12 ER; SG Würzung, Beschluss vom 1.2.2013 - S 18 AY 1/13 ER.

 

 

 

3.

Die Rechtsprechung zu §§ 31 ff. SGB II

Im Bereich des SGB II ist bislang keine solche Reaktion infolge des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zum Asylbewerberleistungsgesetz zu verzeichnen. Allerdings erscheint dort eine vergleichbare verfassungskonforme Auslegung der §§ 31 ff. SGB II auch nicht möglich.

Zur Unmöglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung s. Vorlageantrag unter 3.

Einige Sozialgerichte und Landessozialgerichte halten jedoch die Sanktionierung um 100 % für verfassungswidrig, wenn dadurch das „physische Existenzminimum des Hilfebedürftigen nicht mehr gesichert ist und der Grundsicherungsträger nicht zugleich ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen gewährt“:

so SG Berlin vom 19.8.2009 – S 26 AS 5380/09, juris Rn. 29 f., im Anschluss an Landessozialgericht Berlin 10. Senat vom 16. Dezember 2008 - L 10 B 2154/08 AS ER-, Rn. 10); vgl. auch LSG Niedersachsen, Beschluss vom 21.4.2010 – L 13 AS 100/10 B ER, Rn. 7 f.

Von den meisten Sozialgerichten werden die §§ 31 ff. SGB II indes schlicht ohne Erörterung angewendet, d. h. offenbar für verfassungsrechtlich unproblematisch erachtet. Eine nähere Begründung und entsprechend eine argumentative Auseinandersetzung mit der vorgebrachten verfassungsrechtlichen Kritik erfolgt dabei meist nicht.

Auch das Bundessozialgericht sah jedenfalls bis 2010 keine Bedenken bei der Anwendung von Sanktionen, wenn Sachleistungen angeboten worden sind und von diesen auch tatsächlich Gebrauch gemacht worden ist. Entsprechend hat es die Entscheidung für entbehrlich gehalten, ob die bestehenden Sanktionsmöglichkeiten „als ein dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns genügender Ausdruck der verfassungsrechtlich bestehenden Selbsthilfeobliegenheit als Kehrseite der Gewährleistungspflicht des Staates anzusehen sind.“

BSG, Urteil vom 9.11.2010 – B 4 AS 27/10 R, juris Rn. 34.

 

 

 

4.

Grundsätzliche Befürwortung der Sanktionstatbestände

Diejenigen Teile der rechtswissenschaftlichen Literatur, die Sanktionen für grundsätzlich zulässig erachten, fassen diese als Mitwirkungsobliegenheiten auf, bei deren Nichterfüllung eine Verkürzung des regulären Leistungsanspruchs trotz der Unverfügbarkeit des Grundrechts für zulässig erachtet wird:

vgl. Knickrehm, Arbeitsmarktpolitik und Sanktionen im SGB II und SGB III - Entwicklung, Auswirkungen und Wirkungen, ArbuR 2011, 237, 239; Lauterbach, ZFSH/SGB 2011, 584; Burkiczak, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, Beck'scher Online Kommentar, Stand: 1.12.2012, § 31 a, Rn. 12 f; Berlit, Das neue Sanktionensystem, ZFSH/SGB 2006, S. 15.

Der sanktionierte Hilfebedürftige wird danach als vermindert schutzwürdig angesehen. Entsprechend stellt sich auch ein zeitweilig "hinreichend begründeter vollständiger Verzicht auf Versorgung" nicht einmal als ermessensfehlerhaft dar.

Vgl. Burkiczak, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, Beck'scher Online Kommentar, Stand: 1.12.2012, § 31a SGB II, Rn. 13.

Zugleich wird laut Burkiczak durch § 31 a Abs. 3 S. 1 SGB II angeblich sichergestellt, dass die „letzte Grundversorgung“ erhalten bleibe, so dass der erwerbsfähige Leistungsberechtigte nicht in seiner Existenz gefährdet werde:

Burkiczak, in: Rolfs/Giesen/Kreikebohm/Udsching, Beck'scher Online Kommentar, Stand: 1.12.2012, § 31 a SGB II, Rn. 12.

Ähnlich wie Burkiczak äußert der überwiegende Teil der grundsätzlichen Sanktionsbefürworter zugleich verfassungsrechtliche Kritik an der konkreten gesetzlichen Ausgestaltung und schränkt ihre Auffassung von der Zulässigkeit von Sanktionen somit selbst wieder ein.

 

 

 

5.

Eingeschränkte Kritik an den gegenwärtigen Sanktionsregelungen

Ein großer Teil der Literatur hält Sanktionen mit Einschränkungen für zulässig, wobei die geltende Rechtslage häufig als verfassungsrechtlich problematisch bezeichnet wird.

Insbesondere wird dabei mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz argumentiert.

So hält z. B. Lauterbach das Entfallen der Bedarfe nach § 22 SGB II für bedenklich:

Lauterbach, Verfassungsrechtliche Probleme der Sanktionen im Grundsicherungsrecht, ZFSH/SGB 2011, S. 585.

Auch hält er die Verhängung einer Sanktion von 60 % bzw. 100 % ohne die Gewährung von Sachleistungen für in der Regel unverhältnismäßig, wenn eine angemessene Lebensmittelversorgung anderweitig nicht gewährleistet ist:

vgl. Lauterbach, in: Gagel, SGB II, 48. Ergänzungslieferung 2013, § 31, Rn. 2.

Zudem kritisiert er die „Funktion einer `Strafnorm` mit generalpräventivem Charakter“ und sieht in den starren Rechtsfolgen der Sanktionsnormen einen Konflikt mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz:

Lauterbach, Verfassungsrechtliche Probleme der Sanktionen im Grundsicherungsrecht, ZFSH/SGB 2011, 584, 586.

Berlit, der Leistungskürzungen grundsätzlich für verfassungsrechtlich zulässig hält, schränkt in gleichem Atemzug ein:

„Dies bedeutet [...] nicht, dass das geltende Sanktionssystem in all seinen Ausformungen verfassungsrechtlich unbedenklich ist. [...] Der Gesetzgeber darf auch bei grob pflichtwidrigem Handeln den Leistungsberechtigten nicht in eine Situation bringen, in der das physische Existenzminimum aktuell nicht gewährleistet ist und der Leistungsberechtigte auch sonst keine Chance hat, sich die hierfür erforderlichen Mittel legal kurzfristig anderweitig zu beschaffen.“ [Hervorh. d. Verf.]

Berlit, Minderung der verfügbaren Mittel – Sanktionen und Aufrechnung im SGB II, ZFSH/SGB 2012, 562 ff. (567),

Schnath vertritt die Auffassung, dass zumindest „das zum Überleben Notwendige sicher zu stellen ist“ und ein Sanktionsregime, welches das Überlebensnotwendige – auch zeitweise – nicht sichert, verfassungswidrig  sei:

Schnath, Das neue Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, NZS 2010, S. 301.

Herold-Tews hält es für problematisch, dass § 31a SGB II keine Härteregelungen vorsieht:

Herold-Tews, in: Löns/Herold-Tews, SGB II, Grundsicherung für Arbeitssuchende, 3. Auflage, 2011, § 31 a, Rn. 27.

Hirschboeck formuliert hinsichtlich einer vollständigen Leistungsstreichung verfassungsrechtliche Bedenken:

Hirschboeck, Sozialhilfemissbrauch in Deutschland aus juristischer Sicht, 2004, S. 114 f.

Sonnhoff hält einen Verstoß gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip für möglich, wenn eine Sanktion von 100 % über drei Monate verhängt werden könnte. Dabei sei besonders problematisch, dass auch die Kosten für Unterkunft entfallen. 

Sonnhoff, in: Radüge, jurisPK-SGB II, 3. Auflage, 2012, § 31 a, Rn. 25. 

Berlit führt aus, dass Zeitdauer und Umfang der Minderung zu unflexibel seien:

Berlit, in: Münder, LPK-SGB II, § 31 a, Rn. 5.

Ähnlich wird argumentiert, dass die sachbearbeitende Person derzeit keine Möglichkeit habe, auf besondere Härten im Einzelfall einzugehen.

Vgl. hierzu: Loose, Sanktionierung von Pflicht und Obliegenheitsverletzungen im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende, ZFSH/SGB 2010, S. 345.

Auch nach Lauterbach widerspricht „die Starrheit des Sanktionsmechanismus“ dem Ziel der Aktivierung und gebe den Regelungen „Strafcharakter“:

Lauterbach, in: Gagel, SGB II, 48. Ergänzungslieferung 2013, § 31, Rn. 1.

Köpp/Richers halten das Antragserfordernis und das Ermessen der Verwaltung bei der Sachleistungsvergabe für verfassungsrechtlich problematisch und befürworten zudem eine Sachleistungsgewährung, die den Betroffenen zum einen die Möglichkeit von Alternativen gewährt und zum anderen keine diskriminierende Wirkung entfaltet.

Köpp/Richers, Wer nicht arbeitet, soll dennoch essen, DÖV 2010, S. 1000.

 

 

 

6.

Argumentationsmuster Aufspaltung des Existenzminimums

Bei der verfassungsrechtlichen Begründung und Argumentation für die grundsätzliche Zulässigkeit von Sanktionen nach § 31 ff. SGB II erfolgt in der Fachliteratur meist eine weitergehende Aufteilung des Existenzminimums. Dabei wird ein Kernbereich des Existenzminimums ausgemacht, meist als „physisches Existenzminimum“ bezeichnet.

Burkiczak - BeckOK, SGB II § 31a Rn. 12; Berlit, info also 2011 Heft 2, 53, 54 f.; vgl. bereits BSG vom 22.4.2008 - B 1 KR 10/07, juris Rn. 31. Auch bezeichnet als „Menschenwürdesockel“ (Richers, Dominik/Köpp, Matthias, Wer nicht arbeitet, soll dennoch essen, DÖV 2010, 997, 1001) oder „absolutes Existenzminimum“ (Stellungnahme des Deutschen Richterbundes zur öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages vom 6.6.2011, Nr. 3).

Lediglich dieser „Kern“ des Existenzminimums wird als unverfügbar angesehen.

Vgl. Burkiczak - BeckOK, SGB II § 31a Rn. 12 f.; Berlit, info also 2011 Heft 2, 53, 54 f.; Richers/Köpp, DÖV 2010, 997, 1000 f.; Lauterbach, ZFSH/SGB 2011, 584, 585.

Bezüglich des über das physische Überleben hinaus Erforderlichen wird dem Gesetzgeber die Möglichkeit zuerkannt, Leistungen gar nicht zu gewähren oder an Obliegenheiten zu knüpfen, solange dies nur verhältnismäßig geschehe.

So ist etwa Burkiczak der Auffassung, bei Leistungsminderungen bis zu 30 % bedürfe es einer Kompensation durch Sachleistungen nicht, weil „insofern das physische Existenzminimum nicht betroffen“ sei – eine solche Absenkung wirke sich „nur auf die Möglichkeiten zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben aus“.

Burkiczak - BeckOK, SGB II § 31a Rn. 12 f.

Ähnlich argumentiert Lauterbach, nach dem „im Einzelfall nicht das für die physische Existenz des Menschen unerlässliche Maß der staatlichen Leistungsgewährung“ unterschritten werden dürfe:

Lauterbach, ZFSH/SGB 2011, 584, 585.

Davilla ist der Ansicht, „aus der Tatsache, dass die Höhe der Regelleistung nicht verfassungswidrig ist“, ergäbe sich „die weiterhin bestehende Möglichkeit der Absenkung der Leistungen“, soweit sie den „Kern des Existenzminimums nicht beeinträchtigen“.

Davilla, SGb 2010, 557, 559.

Und Richers/Köpp halten das Grundrecht für in seinem „Randbereich (erweitertes Existenzminimum) der Abwägung mit anderen Verfassungsgütern zugänglich – und damit auch prinzipiell bedingbar“.

Richers/Köpp, DÖV 2010, 997, 1001.

Sie weisen gleichzeitig aber darauf hin, dass schon bei einer Kürzung des Leistungsanspruchs um 30 % die physische Existenz einen Menschen gefährdet sein kann:

Vgl. Richers/Köpp, DÖV 2010, 997, 1003 f.

Bei dieser Aufteilung in einen verfügbaren Außenbereich und einen unverfügbaren Kernbereich wird die Wertung des Bundesverfassungsgerichts verkannt, nach der der verfassungsrechtliche Leistungsanspruch das „gesamte Existenzminimum“ durch eine „einheitliche grundrechtliche Garantie“ gewährleistet, die neben der physischen Existenz des Menschen auch die Sicherung der „Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfasst“.

BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 135.

Der gesetzliche Leistungsanspruch muss „stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers“ decken. [Hervorh. d. Verf.]

BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 137.

Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen ist der Aufspaltung des Existenzminimums erst kürzlich argumentativ entgegen getreten:

„Eine derartige Aufspaltung des Existenzminimums in einen unantastbaren physischen Kernbereich und einen ganz oder teilweise vernachlässigungsfähigen gesellschaftlich-kulturellen Teilhabebereich ist jedoch mit dem einheitlichen Gewährleistungsumfang des Grundrechts unvereinbar. Denn bietet Art. 1 Abs. 1 i.Vm. Art. 20 Abs. 1 GG - so ausdrücklich das BVerfG (vgl. a.a.O. Rn. 90 und 129) - eine einheitliche grundrechtliche Garantie auf die zur Wahrung eines menschenwürdigen Existenzminimums notwendigen materiellen Voraussetzungen, so lässt dies keinen Raum für eine Reduzierung des Grundrechts auf einen Kernbereich der physischen Existenz. Das Minimum für die Existenz bezeichnet vielmehr bereits denklogisch einen nicht unterschreitbaren Kern. Der gesamte Leistungsumfang des Existenzminimums muss somit zugleich sein Mindestinhalt sein (so auch Neskovic/Erdem, Zur Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei Hartz IV - Zugleich eine Kritik am Bundesverfassungsgericht, in SGb 2012, S. 134 ff., 137), der ,in jedem Fall und zu jeder Zeit` gewährleistet sein muss.“ [Hervorh. d. Verf.]

Landessozialgericht NRW, L 20 AY 153/12 B ER, 24.4.2013, Rn. 55.

 

 

 

 

 

 

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