Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG
Das Grundrecht auf
Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ergibt sich aus
Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG:
Urteil des Ersten Senats des BVerfG vom 9.2.2010 – 1 BvL 1/09; Urteil
des Ersten Senats des BVerfG vom 18.7.2012 – 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11.
Es handelt sich um ein
verfassungsunmittelbares Leistungsgrundrecht:
BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012; Starck, in: Mangoldt/Klein/Starck,
GG, 6. Auflage, 2010, Art. 1 Rn. 41; Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG,
Stand: 66. Lieferung 2012, Art. 1, Rn. 121; Hufen, Staatsrecht II,
Grundrechte, 3. Auflage 2011, S. 150; Berlit, Minderung der
verfügbaren Mittel – Sanktionen und Aufrechnung im SGB II, ZFSH/SGB
2012, 562.
Dieses Grundrecht ist
„dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden“,
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 133.
Es folgt aus Art. 1
Abs. 1 GG und hat
„als Gewährleistungsrecht in seiner Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG
neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung
der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung.“
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 133.
Die
anspruchsgewährenden Aspekte des Grundrechts ergeben sich aus Art. 1
Abs. 1 GG, wohingegen das Sozialstaatsprinzip einen Gestaltungsauftrag
an den Gesetzgeber enthält:
„Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch. Das Sozialstaatsgebot des
Art. 20 Abs. 1 GG wiederum erteilt dem Gesetzgeber den Auftrag, jedem
ein menschenwürdiges Existenzminimum zu sichern, wobei dem Gesetzgeber
ein Gestaltungsspielraum bei den unausweichlichen Wertungen zukommt,
die mit der Bestimmung der Höhe des Existenzminimums verbunden sind.“
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 133.
aa) Konkretisierung des Grundrechtsumfangs durch den Gesetzgeber
Das Grundrecht bedarf
der
„Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber,
der die zu erbringenden Leistungen an den jeweiligen Entwicklungsstand
des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten
hat. Dabei steht ihm ein Gestaltungsspielraum zu.“
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Leitsatz 2.
Hierbei ist zu
beachten, dass das Bundesverfassungsgericht den Gestaltungsspielraum
des Gesetzgebers und das Anpassungserfordernis lediglich auf den
konkreten Umfang des Leistungsanspruchs bezieht, wohingegen es
den individuellen Anspruch darauf für „unmittelbar“
verfassungsrechtlich erklärt. Der Anspruch ist damit durch den
Gesetzgeber von vornherein bloß noch der Höhe nach zu
konkretisieren, wohingegen er „dem Grunde nach von der
Verfassung vorgegeben“ ist [Hervorh. d. Verf.].
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 135, 138.
Bei der Ausgestaltung
des (verfassungsunmittelbaren) Leistungsanspruchs ist der Gesetzgeber
nicht völlig frei. Er hat strenge Vorgaben des
Bundesverfassungsgerichts zu erfüllen, die sowohl Form als auch Inhalt
der Ausgestaltung betreffen:
„Die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums muss durch
einen gesetzlichen Anspruch gesichert sein. Dies verlangt bereits
unmittelbar der Schutzgehalt des Art. 1 Abs. 1 GG. Ein
Hilfebedürftiger darf nicht auf freiwillige Leistungen des Staates
oder Dritter verwiesen werden, deren Erbringung nicht durch ein
subjektives Recht des Hilfebedürftigen gewährleistet ist. Die
verfassungsrechtliche Gewährleistung eines menschenwürdigen
Existenzminimums muss durch ein Parlamentsgesetz erfolgen, das
einen konkreten Leistungsanspruch des Bürgers gegenüber dem
zuständigen Leistungsträger enthält.“ [Hervorh. d. Verf.]
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 136.
„Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er
stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf
jedes individuellen Grundrechtsträgers deckt.“ [Hervorh. d. Verf.]
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 137.
„Zur Konkretisierung des Anspruchs hat der Gesetzgeber alle
existenznotwendigen Aufwendungen folgerichtig in einem
transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen
Bedarf, also realitätsgerecht, zu bemessen […].“ [Hervorh. d.
Verf.]
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 139.
Entscheidend ist
demnach, dass der Gesetzgeber „seine Entscheidung an den konkreten
Bedarfen der Hilfebedürftigen ausrichtet“:
BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 93.
Der gesetzliche
Leistungsanspruch muss sich seiner Höhe nach also an den
tatsächlich bestehenden existenznotwendigen Bedarfen orientieren.
Daneben macht das
Bundesverfassungsgericht weitere Vorgaben zum Umfang des
Leistungsanspruchs. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines
menschenwürdigen Existenzminimums umfasst danach nicht nur die
physische Existenz des Menschen, sondern auch ein Mindestmaß an
soziokultureller Teilhabe am gesellschaftlichen Leben:
vgl. BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 135.
Diese Entscheidung
trägt der aktiven Schutzverpflichtung des Staates Rechnung, die den
Einzelnen ausgrenzenden Reaktionen der Gesellschaft entgegenzuwirken
hat. Das folgt bereits aus der konstituierenden Bedeutung der
Menschenwürde gemäß Art. 1 Abs. 1 GG. Hieran ist der Gesetzgeber
gebunden, wenn er seinem Ausgestaltungsauftrag bei der Bestimmung des
menschenwürdigen Existenzminimums nachkommt. Er muss demnach neben dem
physischen Überleben auch die soziale Teilhabe der Hilfebedürftigen
sichern:
vgl. BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 137; Starck, in:
Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. Auflage, 2010, Art. 1, Rn. 41.
bb) Verfassungsgerichtliche Kontrolle des Grundrechts
Sowohl das
Ausgestaltungsverfahren durch den Gesetzgeber, als auch der Umfang des
Grundrechts unterliegen der verfassungsgerichtlichen Kontrolle.
Das
Bundesverfassungsgericht prüft zunächst, ob der Gesetzgeber „die
erforderlichen Tatsachen im Wesentlichen vollständig und
zutreffend ermittelt“ hat und ob sich das Berechnungsverfahren
nachvollziehen lässt:
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 143.
Aufgrund eines
Verstoßes gegen dieses Verfahren hat das Bundesverfassungsgericht
sowohl die alten Regelsätze als auch die Leistungen nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz für verfassungswidrig erklärt. Denn die
Leistungshöhe war
„weder nachvollziehbar berechnet worden noch ist eine
realitätsgerechte, auf Bedarfe orientierte und insofern
aktuell existenzsichernde Berechnung ersichtlich.“ [Hervorh. d.
Verf.]
BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 106.
Darüber hinaus nimmt
das Bundesverfassungsgericht auch eine Überprüfung der Höhe der zur
Deckung des menschenwürdigen Existenzminimums gewährten Leistungen im
Wege einer Evidenzkontrolle vor:
vgl. BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 152 ff.; BVerfG, 1 BvL
10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 107 ff.
Auf diese Weise hat das
Bundesverfassungsgericht zuletzt die Leistungen nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz für verfassungswidrig erklärt und – wie in
seiner Entscheidung vom 9.2.2010 bereits bezüglich der Leistungen für
einen laufenden besonderen Bedarf – übergangsweise selbst (höhere)
Leistungen festgesetzt:
vgl. BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 107 ff., 124 ff.
Für den Regelsatz nach
den alten SGB-II-Normen hatte es hingegen eine evidente
Unterschreitung nicht festgestellt,
„weil die Regelleistung zur Sicherung der physischen Seite des
Existenzminimums zumindest ausreicht und der Gestaltungsspielraum des
Gesetzgebers bei der sozialen Seite des Existenzminimums weiter ist.“
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 152.
Die hier durch das
Bundesverfassungsgericht vorgenommene Trennung in ein physisches und
soziokulturelles Existenzminimum ist nur in zweierlei Hinsicht von
Bedeutung. Zum einen räumt es dem Gesetzgeber bei der Ausgestaltung
des physischen Existenzminimums einen engeren Gestaltungsspielraum ein
als bei der Regelung der soziokulturellen Teilhabe,
vgl. BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 138.
Zum anderen hat das
Bundesverfassungsgericht offenbar die Evidenzkontrolle bezüglich des
Leistungsumfangs des einheitlichen Grundrechts zum Zeitpunkt
seiner „Regelsatz-Entscheidung“ (ggf. mangels anderweitiger Daten) nur
am physischen Existenzminimum orientiert:
vgl. BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 152.
cc) Einheitliches Grundrecht
Rechtsdogmatisch lässt
sich das Gewährleistungsrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum
indes nicht in einen (physischen) „Kernbereich“ und einen darüber
hinaus gehenden (soziokulturellen) „Randbereich“ aufteilen.
Zu teilweise abweichenden Ansichten in der Literatur s. Anhang.
Vielmehr beinhaltet es
eine
„einheitliche grundrechtliche Garantie, die sowohl die
physische Existenz des Menschen […] als auch die Sicherung
der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu
einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen,
kulturellen und politischen Leben umfasst.“ [Hervorh. d. Verf.]
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 90.
Der gesetzliche
Leistungsanspruch muss „stets den gesamten
existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers“ [Hervorh.
d. Verf.] decken.
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 137.
Es sind im Übrigen
keinerlei Kriterien ersichtlich, nach denen eine Aufteilung oder
Differenzierung in „Kern“ und „Randbereich“ des Existenzminimums
willkürfrei denkbar wäre und praktisch durch den Gesetzgeber
entsprechend zugeteilt werden könnte..
Auf den Umstand der
Unteilbarkeit der Leistungen hat die Bundesregierung infolge der
„Regelsatz-Entscheidung“ des Bundesverfassungsgerichts vom 9.2.2010
hingewiesen:
„Im Leistungsrecht des SGB II und des SGB XII wird entsprechend ein
Regelbedarf anerkannt, der insbesondere Ernährung, Kleidung,
Körperpflege, Hausrat, Haushaltsenergie sowie persönliche Bedürfnisse
des täglichen Lebens umfasst. Bei den sich ergebenden
Regelbedarfen handelt es sich um die Summen statistisch nachgewiesener
durchschnittlicher regelbedarfsrelevanter Verbrauchs-ausgaben.
Erbracht werden die Regelbedarfe als monatlicher Pauschalbetrag, der
ein monatliches Budget darstellt. In diesem Pauschalbetrag
lässt sich naturgemäß eine trennscharfe Unterscheidung von
,physischen` oder ,soziokulturellen` Bedarfen nicht vornehmen.
Die Verwendung dieses Betrages liegt zudem in der alleinigen
Verantwortung der Leistungsberechtigten. Rückschlüsse darauf, wofür
Leistungsberechtigte dieses monatliche Budget ausgeben, sind deshalb
nicht möglich. Eine Heranziehung der Einkommens- und
Verbrauchsstichprobe zur Bestimmung verschiedener Existenzminima
ist daher weder erforderlich noch sinnvoll.“ [Hervorh. d. Verf.]
Bundestags-Drucksache 17/6833, Antwort Kleine Anfrage, S. 4.
Auch das
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen ist einer „Aufspaltung“ des
Existenzminimums kürzlich entgegen getreten:
„Eine derartige Aufspaltung des Existenzminimums in einen
unantastbaren physischen Kernbereich und einen ganz oder teilweise
vernachlässigungsfähigen gesellschaftlich-kulturellen Teilhabebereich
ist jedoch mit dem einheitlichen Gewährleistungsumfang des
Grundrechts unvereinbar. Denn bietet Art. 1 Abs. 1 i.Vm. Art. 20 Abs.
1 GG - so ausdrücklich das BVerfG (vgl. a.a.O. Rn. 90 und 129) - eine
einheitliche grundrechtliche Garantie auf die zur Wahrung eines
menschenwürdigen Existenzminimums notwendigen materiellen
Voraussetzungen, so lässt dies keinen Raum für eine Reduzierung
des Grundrechts auf einen Kernbereich der physischen Existenz. Das
Minimum für die Existenz bezeichnet vielmehr bereits denklogisch einen
nicht unterschreitbaren Kern. Der gesamte Leistungsumfang des
Existenzminimums muss somit zugleich sein Mindestinhalt sein (so auch
Neskovic/Erdem, Zur Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei Hartz IV
- Zugleich eine Kritik am Bundesverfassungsgericht, in SGb 2012, S.
134 ff., 137), der ,in jedem Fall und zu jeder Zeit` gewährleistet
sein muss.“ [Herv. d. Verf.]
Landessozialgericht NRW, L 20 AY 153/12 B ER, 24.4.2013, Rn. 55.
dd) Ausgestaltung durch §§ 20 ff. SGB II
Der Gesetzgeber hat mit
den §§ 20 ff. SGB II, 28 ff. SGB XII eine Bestimmung der Bedarfshöhe
vorgenommen. Ausgehend von einer Bedarfsberechnung erkennt er in §§ 20
ff. SGB II pauschalierte Geldleistungen zu:
vgl. Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen nach § 28 SGB XII, insb.
§ 8 RBEG i. V. m. § 20 Abs. 2-4 SGB II; auch: Hannes in Gagel, SGB II,
§ 20 Rn. 3.
Dabei ist nicht
ersichtlich, dass der Regelsatz des ALG II etwa als Bonussystem
ausgestaltet worden wäre, bei dem eine Sanktion lediglich zur
Absenkung der Leistungen auf die Höhe des Existenzminimums führen
würde, also nur „pflichtwidrig“ handelnde Leistungsbezieher auf das
Minimum reduziert würden und alle übrigen Hilfebedürftigen Leistungen
erheblich oberhalb dieses Niveaus erhielten.
Eine solche
Konstruktion, nach der der reguläre Sozialhilfeanspruch noch um 20 bis
30 % auf die „Höhe des zum Leben Unerlässlichen“, gesenkt werden
könnte, wurde von einigen Gerichten bei der Anwendung der früheren
Vorschrift des § 25 BSHG angenommen,
z. B. Hess. VGH, 6 S 307/89 vom 4.4.1989, Rn. 5; VGH Ba-Wü, 7 S
1755/99 vom 11.10.1999, Rn. 12,
und findet sich
mitunter auch noch in der Kommentarliteratur zum SGB II, indem
unterhalb des gesetzlichen Existenzminimums noch ein „Kernbereich“,
meist eine Art „physisches Existenzminimum“ konstruiert wird;
näheres dazu s. Anhang.
Dann müsste der volle
Regelsatz des Arbeitslosengeldes II nach §§ 20 SGB II über das
menschenwürdige Existenzminimum hinausgehen,
vgl. dazu Berlit, ZFSH SGB 10/2012, S. 561 ff. (564).
Gegen die Annahme, der
Gesetzgeber habe eine Regelleistung festlegen wollen, die irgendwo
(undefiniert und undefinierbar) oberhalb des Existenzminimums
angesiedelt ist, spricht jedoch entscheidend die mit der Einführung
der Regelbedarfe des SGB II durch den Gesetzgeber vorgenommene
Bedarfsberechnung im Sinne einer Festsetzung der für das physische
Überleben und die kulturelle Teilhabe unbedingt zu
gewährleistenden Bedarfe. Sinn und Zweck der Neufassung der
SGB-II-Leistungsnormen war die Erfüllung der Vorgaben des
Bundesverfassungsgerichts nach einem transparenten
Berechnungsverfahren zur Bestimmung der Leistungen zur Sicherung des
menschenwürdigen Existenzminimums:
vgl. Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Ermittlung von
Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches
Sozialgesetzbuch, S. 1, A. Problem und Ziel; Hannes in Gagel, SGB II,
§ 20 Rn. 5, 10 ff., 90.
Ausweislich der
vorgenommenen Berechnungen, die ihren Niederschlag in den
Festsetzungen des Regelbedarfs-Ermittlungsgesetzes gefunden haben,
handelt es sich um Bedarfe, die zur Deckung des gesellschaftlich
anerkannten Minimums erforderlich sind, also eben so ausreichen
(sollen). Die mindestens erforderlichen Bedarfe für eine
menschenwürdige Existenz können aber weder logisch noch begrifflich
weiter unterschritten werden.
Eine exakte Berechnung
durch Heranziehung statistischer Verbraucherausgaben hat zu einer
(möglicherweise nicht einmal ausreichenden) Festsetzung von Leistungen
geführt. Die Leistungshöhen im SGB II und SGB XII für Ein- und
Mehr-Personen-Haushalte und für Kinder sowie die Mehrbedarfszuschläge
entsprechen dieser Berechnung, ohne dass dabei ein
zusätzlicher, nicht durch die Berechnung selbst intendierter Betrag
als „Bonuszuschlag“ oberhalb des vom Gesetzgeber als erforderlich
angesehenen Pauschalbetrags gewährt wird.
Von der Intention des
Gesetzgebers, mit den Regelsätzen des SGB II gerade das
menschenwürdige Existenzminimum zu sichern, geht auch das
Bundesverfassungsgericht aus:
„Die Normen des Regelbedarfs-Ermittlungsgesetzes sind ausweislich der
Stellungnahme der Bundesregierung in diesem Verfahren die einzig
verfügbare, durch den Gesetzgeber vorgenommene und angesichts
seines Gestaltungsspielraums wertende Bestimmung der Höhe von
Leistungen zur Sicherstellung eines menschenwürdigen
Existenzminimums.“ [Hervorh. d. Verf.]
BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 126.
ee) Mangelnde Ausgestaltung durch §§ 31 ff. SGB II
Die § 31a i. V. m.
§ 30, § 31b SGB II und § 32 SGB II
[§ 32 ggf. streichen!]
verstoßen bereits durch die Kopplung der Leistungsgewährung an ein
bestimmtes Verhalten des Betroffenen gegen das Grundrecht aus
Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG.
Die Sanktionsnormen
sind nämlich ganz offenkundig nicht zum Zwecke und unter
Berücksichtigung einer Bedarfsberechnung eingefügt worden.
Bezüglich der nach einer Sanktion verbleibenden Leistung liegt
keine Bedarfsbestimmung vor: Die Leistung ist in keiner Weise
gesetzlich berechnet oder auch nur in Bedarfspositionen festgelegt.
Dies stellt einen mangelhaften gesetzgeberischen Ausgestaltungsakt
dar.
Normen, die eine
pauschale prozentuale Kürzung pro (jede) Pflichtverletzung
vorsehen, berechnen keinen tatsächlichen Bedarf, sondern ignorieren
ihn. Bei einer Leistungskürzung nach § 31a SGB II/§ 32 SGB II
[§ 32 ggf. streichen!]
besteht keinerlei Zusammenhang zwischen der restlichen Leistung
und dem gegenwärtigen Bedarf der Hilfebedürftigen. Der
Sanktionsmechanismus ist vielmehr unabhängig von real
existierenden Bedarfen. Der Gesetzgeber hat die volle Erbringung der
durch ihn berechneten Leistung stattdessen an
Mitwirkungspflichten, d. h. an ein bestimmtes Verhalten der
Betroffenen, gekoppelt:
vgl. Gesetzesbegründung, Bundestags-Drucksache 17/3404, S. 110, 112,
Vorbemerkung zu den §§ 31 bis 32.
Teile der Literatur
sehen darin gleichwohl „Grundrechtsausgestaltungen, die sich
nicht den Anforderungen an die Rechtfertigung eines
Grundrechtseingriffs stellen müssen.“ [Hervorh. d. Verf.],
so Burkiczak, Zwischenruf zu Nešković/Erdem, Zur Verfassungswidrigkeit
von Sanktionen bei Hartz IV, SGb 6/12, S. 324 ff., Nr.1 b.
Andere weisen hingegen
auf den Eingriffscharakter hin:
Nešković/Erdem, Für eine verfassungsrechtliche Diskussion über die
Menschenwürde von Hartz-IV-Betroffenen, in: SGb 2012, 326 ff. (326 f.).
Sanktionen können
jedenfalls „nur zulässig sein, wenn die Leistungsgewährung an
bestimmte, über die bloße aktuelle Hilfebedürftigkeit hinausgehende
Voraussetzungen geknüpft werden darf.“ [Hervorh. d. Verf.],
Lauterbach, ZFSH/SGB 2011, 584.
Doch dies ist mit dem
Bundesverfassungsgericht klar zu verneinen. Einzig und allein der
Bedarf ist der Maßstab, nach dem der Gesetzgeber den Leistungsanspruch
zu berechnen hat. Der Gesetzgeber darf den Umfang des Existenzminimums
nicht nach Gutdünken bestimmen, sondern hat nach
verfassungsgerichtlich überprüfbaren Kriterien eine
nachvollziehbare Bedarfsberechnung vorzunehmen.
Der Leistungsanspruch
„hängt von den gesellschaftlichen Anschauungen über das für ein
menschenwürdiges Dasein Erforderliche, der konkreten
Lebenssituation des Hilfebedürftigen sowie den jeweiligen
wirtschaftlichen und technischen Gegebenheiten ab und ist danach
vom Gesetzgeber konkret zu bestimmen.“ [Hervorh. d. Verf.]
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 138.
Das
Bundesverfassungsgericht hat bereits in einer früheren Entscheidung in
Bezug auf die Versagung von Sozialhilfe aufgrund mangelnder Angaben
des Leistungsberechtigte zu seiner Notlage i. S. d. § 60 SGB I
ausgeführt:
„Diese Pflicht [des Staates zur Sicherstellung eines menschenwürdigen
Lebens, d. Verf.] besteht unabhängig von den Gründen der
Hilfebedürftigkeit (vgl. BVerfGE 35, 202 <235>). Hieraus folgt,
dass bei der Prüfung der Voraussetzungen eines Anspruchs auf
Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums, soweit es um die
Beurteilung der Hilfebedürftigkeit der Antragsteller geht, nur auf die
gegenwärtige Lage abgestellt werden darf.“
In einem auf sein
Grundsatzurteil vom 9.2.2010 folgenden Beschluss betreffend die
Einkommensanrechnung, führt das Bundesverfassungsgericht aus, die
Verfassung gebiete nicht die Gewährung von
„bedarfsunabhängigen, voraussetzungslosen Sozialleistungen. Der
Gesetzgeber hat vielmehr einen weiten Spielraum, wenn er Regelungen
darüber trifft, ob und in welchem Umfang bei der Gewährung von
Sozialleistungen, die an die Bedürftigkeit des Empfängers anknüpfen,
sonstiges Einkommen des Empfängers auf den individuellen Bedarf
angerechnet wird“ (vgl. BVerfGE 100, 195 <205>).“ [Hervorh. d. Verf.].
BVerfG, 1 BvR 2556/09 vom 7.7.2010, Rn. 13.
Damit lässt es gerade
nicht die Kopplung des Leistungsanspruchs an irgendeine beliebige
Voraussetzung zu. Im Gegenteil geht das Bundesverfassungsgericht
weiterhin von einem unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem
tatsächlichen Bedarf des Betroffenen und der Leistungserbringung aus:
Voraussetzung für die Leistungsgewährung ist die gegenwärtige
Bedürftigkeit. Der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers umfasst nicht
die Anknüpfung an willkürliche Tatbestandsvoraussetzungen, sondern
lediglich „die Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse
ebenso wie die wertende Einschätzung des notwendigen Bedarfs“ [Hervorh.
d. Verf.].
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 138.
Durch eine
Leistungskürzung wird im Ergebnis ein verminderter Bedarf
zuerkannt. Doch durch das die Sanktionen auslösende Verhalten ist der
Hilfebedürftige nicht mit einem Mal weniger bedürftig. Die
Mittel, die er für die physischen Existenz und zu einem Mindestmaß an
sozialer Teilhabe benötigt, bleiben die gleichen, die er vor
dem vorgeworfenen Verhalten benötigt hat.
Vgl. Nešković/Erdem, Für eine verfassungsrechtliche Diskussion über
die Menschenwürde von Hartz-IV-Betroffenen, in: SGb 2012, 326 ff.
(327).
Wird eine mangelhafte
und/oder mangelnde Berechnung des existenznotwendigen Bedarfs
vorgenommen, ist das Grundrecht in einer (unzulässigen) Weise bestimmt
worden, welche selbst gegen das Grundrecht verstößt:
vgl. BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 144.
Das
Bundesverfassungsgericht hat hinsichtlich der mangelhaften Berechnung
der alten Hartz-IV-Regelleistungen ausgeführt:
„Schätzungen ‚ins Blaue hinein` laufen [...] einem Verfahren
realitätsgerechter Ermittlung zuwider und verstoßen deshalb gegen Art.
1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs.
1 GG.“
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 171.
Wenn bereits
Gesetzesvorschriften, die auf einer nicht nachvollziehbaren Berechnung
(aber immerhin auf einer Bedarfsschätzung) beruhen, gegen das
Grundrecht auf Sicherung eines Existenzminimums verstoßen, muss dies
erst recht für Normen gelten, die die Höhe der Leistung
überhaupt nicht an den Bedarf, sondern an ein Verhalten des
Bedürftigen koppeln.
Vgl. Nešković/Erdem, Zur Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei
Hartz IV - Zugleich eine Kritik am Bundesverfassungsgericht, SGb 2012,
136 ff. (139).
Unabhängig davon, ob
der Gesetzgeber die Leistungsgrenzen unter Umständen noch enger ziehen
oder Leistungen für soziale Teilhabe komplett aberkennen dürfte,
so offenbar Burkiczak - BeckOK, SGB II § 31a Rn. 12 f. und Davilla,
SGb 2010, 557, 558 f.,
könnten negative
Abweichungen vom (einfach-)gesetzlich zuerkannten Leistungsanspruch
überhaupt nur dann verfassungsgemäß sein, wenn sie ihrerseits den
Umfang des Grundrechts in zulässiger Weise ausgestalten.
Dies ist
der Fall, wenn sie selbst ein bedarfsberechnendes Parlamentsgesetz
darstellen.
Vgl. Nešković/Erdem, Zur Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei
Hartz IV, SGb 2012, 136 ff. (139).
Es ist deswegen auch
nur unter ganz bestimmten Bedingungen möglich, für verschiedene
Personengruppen unterschiedliche Leistungsumfänge zur Deckung des
Existenzminimums zu definieren:
„Werden hinsichtlich bestimmter Personengruppen unterschiedliche
Methoden zugrunde gelegt, muss dies allerdings sachlich zu
rechtfertigen sein. (...) Eine Differenzierung ist nur möglich, sofern
deren Bedarf an existenznotwendigen Leistungen von dem anderer
Bedürftiger signifikant abweicht und dies folgerichtig in einem
inhaltlich transparenten Verfahren anhand des tatsächlichen Bedarfs
gerade dieser Gruppe belegt werden kann.“ [Hervorh. d. Verf.]
BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 97, 99.
Diese Voraussetzung ist
bei der Gruppe der von Leistungskürzungen Betroffenen nicht
erfüllt. Aus diesem Grund ist eine gleiche Ausgestaltung des
Leistungsanspruchs geboten.
Schon gar nicht erfolgt
eine abweichende Ausgestaltung des Grundrechts durch eine im
Einzelfall vorgenommene Sachleistungsvergabe nach § 31a Abs. 3 SGB II.
Zum einen stellt die
„Berechnung zur Höhe ergänzender Sachleistungen“ in den Hinweisen der
Bundesagentur für Arbeit, die durch Addition der Bedarfe für
„Ernährung und Körperpflege“ zu einer „Gesamtgutscheinhöhe“ von 176
Euro (ca. 46 % des Regelbedarfs) gelangt,
vgl. BA-Hinweise zu §§ 31 ff. SGB II, Anlage 3 und Anlage 4,
nicht einmal
irgendeine (schon gar keine nachvollziehbare) Bedarfsberechnung
durch Parlamentsgesetz dar. Zum anderen darf es augenscheinlich
nicht der Verwaltung obliegen, im einzelnen Sanktionsfall den
konkreten Umfang der Leistungen und damit den Inhalt des
Grundrechts auf Zusicherung eines menschenwürdigen
Existenzminimums nach mehr oder weniger freiem Ermessen
einzuschätzen.
Der Umfang des
menschenwürdigen Existenzminimums wird im Falle einer durch einen
Hilfebedürftigen begangenen „Pflichtverletzung“ demnach nicht
hinreichend bestimmt bzw. ohne sachlichen, bedarfsabhängigen Grund
niedriger beziffert. Dabei ist es die aus dem Grundrecht entspringende
Pflicht des Gesetzgebers, den Leistungsanspruch durch ein
Parlamentsgesetz
„in einem transparenten und sachgerechten Verfahren
realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der Grundlage
verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu
bemessen“,
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Leitsatz 3.
ff) Sanktionen als unzulässiger Eingriff
Bei den Sanktionsnormen
handelt es sich auch nicht um einen zulässigen Eingriff in das
Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG. Denn es ist
von Verfassung wegen verwehrt, existenzsichernde Leistungen – von
denen nach der Entscheidung des BVerfG vom 9.2.2010 und angesichts
eines anhängigen Vorlageverfahrens (SG Berlin, S 55 AS 9238/12) nicht
einmal als gewiss gelten kann, dass sie das Existenzminimum überhaupt
decken,
vgl. dazu Münder, Verfassungsrechtliche Bewertung des Gesetzes zur
Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften
Buches Sozialgesetzbuch vom 24.3.2011 – BGBl. I S. 453, in: Soziale
Sicherheit, Zeitschrift für Arbeit und Soziales der
Hans-Böckler-Stiftung, Sonderheft, September 2011
–
trotz nachgewiesener
Bedürftigkeit durch die Verwaltung im Einzelfall zu kürzen. Im
Gegenteil verlangt Art. 1 Abs. 1 GG, der
„die Menschenwürde jedes einzelnen Individuums ohne Ausnahme
schützt, dass das Existenzminimum in jedem Einzelfall
sichergestellt wird.“ [Hervorh. d. Verf.]
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 205.
Das
Gewährleistungsrecht des Einzelnen ergibt sich nach Auffassung des
Bundesverfassungsgerichts unmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 GG:
„Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen
Existenzminimums ergibt sich aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit
Art. 20 Abs. 1 GG. (...) Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch.“
[Hervorh. d. Verf.]
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 133.
„Dieser objektiven Verpflichtung aus Art. 1 Abs. 1 GG
korrespondiert ein Leistungsanspruch des Grundrechtsträgers, da das
Grundrecht die Würde jedes individuellen Menschen schützt (vgl.
BVerfGE 87, 209 <228>) und sie in solchen Notlagen nur durch
materielle Unterstützung gesichert werden kann.“ [Hervorh. d. Verf.]
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 134.
„Die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums muss durch
einen gesetzlichen Anspruch gesichert sein. Dies verlangt
bereits unmittelbar der Schutzgehalt des Art. 1 Abs. 1 GG.“ [Hervorh.
d. Verf.]
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 136.
„Der Leistungsanspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG ist dem Grunde nach
von der Verfassung vorgegeben.“ [Hervorh. d. Verf.]
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 138.
Bei der Menschenwürde
ist jedoch jeder Eingriff ein ungerechtfertigter, d. h. zugleich ihre
Verletzung. Für eine zulässige Einschränkung des Grundrechts ist
demnach kein Raum.
Vgl. nur BVerfG vom 3.6.1987 – 1 BvR 313/85, BVerfGE 75, 369, 380;
Hillgruber, BeckOK, GG Art. 1 Rn. 11; Nešković/Erdem, Zur
Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei Hartz IV, SGb 2012, 136 ff.
(140) m. w. N.
Die für die
Bundesrepublik Deutschland schlechthin konstituierende unantastbare
Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG ist einem gerechtfertigten Eingriff
unzugänglich. Ein Sanktionsregime, das die „Verweigerung des
Überlebensnotwendigen, sei es auch nur vorübergehend, vorsieht, ist
deshalb verfassungswidrig“.
Schnath, NZS 2010, 297, 301.
Das (einmal durch den
Gesetzgeber ausgestaltete) Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m.
Art. 20 Abs. 1 GG ist „unverfügbar“.
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 133.
Legt der Gesetzgeber in
Erfüllung seiner grundrechtlichen Verpflichtung zur Gewährleistung
eines menschenwürdigen Existenzminimums eine bestimmte Höhe des
Existenzminimums fest, dann nimmt er damit eine
Konkretisierung/Inhaltsbestimmung des Grundrechts vor, an der sich
Kürzungen im Einzelfall messen lassen müssen.
Vgl. Nešković/Erdem, Zur Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei
Hartz IV, SGb 2012, 136 ff. (140); dieselben, Für eine
verfassungsrechtliche Diskussion über die Menschenwürde von
Hartz-IV-Betroffenen, in: SGb 2012, 326 ff. (327).
Das so berechnete
„Minimum für die Existenz“ bezeichnet „bereits denklogisch einen nicht
unterschreitbaren Kern. Der gesamte Leistungsumfang des
Existenzminimums muss somit zugleich sein Mindestinhalt sein“, der „in
jedem Fall und zu jeder Zeit“ gewährleistet sein muss.“
Landessozialgericht NRW, L 20 AY 153/12 B ER vom 24.4.2013, Rn. 55 m.
w. N.
Jegliche Be- und
Einschränkung dieses Anspruchs – aus welchen Gründen auch immer –
bedeutet unweigerlich eine Einschränkung des Leistungsrechts und
verletzt das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen
Existenzminimums. Dies gilt insbesondere für eine bedarfsunabhängige
Verminderung des Anspruchs.
Sanktionen gemäß
§§ 31a, 32 SGB II führen dazu, dass das vom Gesetzgeber festgelegte
Existenzminimum für den Zeitraum der Sanktion unterschritten
wird. Hierbei wird zum einen vollkommen vom Bedarf abstrahiert und zum
anderen die Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts unterlaufen, nach
der „Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG verlangt,
dass das Existenzminimum in jedem Fall und zu jeder Zeit
sichergestellt sein muss“ [Hervorh. d. Verf.],
BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 120,
und „zu jeder Zeit die
Erfüllung des aktuellen Bedarfs sicherzustellen“ ist,
BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 140.
Jede Unterschreitung
dieses unverfügbaren Anspruchsinhalts stellt eine Verletzung
des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen
Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG dar.
Es kann für Eingriffe
in das Grundrecht schlechthin keine Rechtfertigung geben. Dabei kann
es dahinstehen, welche beispielsweise haushälterischen Auswirkungen
die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums
staatlicherseits hat. Der Staat hat die Verpflichtung, seine aus der
Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip erwachsenden Aufgaben zu
erfüllen und die entsprechenden Mittel zur Verfügung zu stellen,
vgl. Bryde, Steuerverweigerung und Sozialstaat, in: Aschke/Hase/Schmidt-De/Caluwe
(Hg.), Selbstbestimmung und Gemeinwohl, Festschrift für Friedrich von
Zezschwitz zum 70. Geburtstag, 2005, S. 326 ff.; Nešković/Erdem, Zur
Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei Hartz IV, SGb 2012, 140.
gg) Evidente Bedarfsunterschreitung
Darüber hinaus liegt
jedenfalls bei allen Sanktionen von über 30 % der Regelleistung
zusätzlich ein Verstoß gegen das Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m.
Art. 20 Abs. 1 GG aufgrund einer evidenten Unterschreitung des zum
Leben Notwendigen vor.
Hat der Gesetzgeber
nämlich erst einmal Leistungen zur Deckung des Existenzminimums
festgelegt, so muss er sich daran messen lassen. Der durch den
Gesetzgeber zuerkannte Leistungsanspruch ist nunmehr unmittelbar
verfassungsrechtlich geschützt. Nach einer Inhaltsbestimmung
erstreckt sich der verfassungsrechtliche Schutz und damit die
(Evidenz-) Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts auf den inhaltlich
konkretisierten Umfang des Grundrechts.
Vgl. Nešković/Erdem, Für eine verfassungsrechtliche Diskussion über
die Menschenwürde von Hartz-IV-Betroffenen, in: SGb 2012, 326 ff.
(329).
Entsprechend hat das
Bundesverfassungsgericht bei seiner Entscheidung über die Leistungen
nach dem Asylbewerberleistungsgesetz die Leistungen nach dem SGB II
als Maßstab für seine Evidenzkontrolle herangezogen und für seine
Übergangsregelung auf das Regelbedarfs-Ermittlungsgesetz
zurückgegriffen:
vgl. BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 107 ff., 126 ff.
Dabei hat es
ausgeführt:
„Die Normen des Regelbedarfs-Ermittlungsgesetzes sind ausweislich der
Stellungnahme der Bundesregierung in diesem Verfahren die einzig
verfügbare, durch den Gesetzgeber vorgenommene und angesichts seines
Gestaltungsspielraums wertende Bestimmung der Höhe von Leistungen zur
Sicherstellung eines menschenwürdigen Existenzminimums.“ [Hervorh.
d. Verf.]
BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 126.
Unter diesem Maßstab
führt bereits eine erhebliche Abweichung vom dem festgelegten
Regelsatz zu der Annahme einer evidenten Unterschreitung des
Existenzminimums, ohne dass es auf die Deckung des zum physischen
Überleben Notwendigen noch ankäme.
So offenbart nach dem
Bundesverfassungsgericht
„ein erheblicher Abstand von einem Drittel zu Leistungen nach dem
Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch, deren Höhe erst in
jüngster Zeit zur Sicherung des Existenzminimums bestimmt wurde [...],
ein Defizit in der Sicherung der menschenwürdigen Existenz.“ [Hervorh.
d. Verf.]
BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 112.
Bereits die erste in
§ 31a Abs. 1 S. 1 SGB II festgelegte Sanktionsstufe, bei der durch die
Verwaltung unter keinen Umständen ein Ausgleich durch Sachleistungen
vorgenommen werden kann, beträgt 30 %. Schon in dieser Unterschreitung
um nahezu ein Drittel der Regelleistung liegt eine evidente
Unterschreitung, erst recht bei allen höheren Sanktionsstufen.
Zwar ist bei Sanktionen
ab 40 % gemäß § 31 Abs. 3 S. 1 SGB II die Gewährung von
Sachleistungen und geldwerten Leistungen als
Kompensationsmöglichkeit vorgesehen. Eine solche Kompensation wird
jedoch nur bis zu einer Grenze von aktuell 172 Euro gewährt,
vgl. BA-Hinweise zu §§ 31 ff. SGB II, Anlage 3 und Anlage 4.
Dies entspricht nicht
einmal 50 % des Regelbedarfs nach § 20 SGB II.
Eine
Sachleistungsvergabe kann höchstens zur relativen Abmilderung der (von
Grund auf verfassungswidrigen) Folgen einer Leistungskürzung führen,
den Verfassungsverstoß selbst jedoch nicht beseitigen.
Darüber hinaus ist die
Gewährleistung von Sachleistungen von der Antragstellung durch den
Betroffenen abhängig. Das bedeutet, es braucht ein aktives Verhalten
des Bedürftigen als Zwischenschritt, um überhaupt eine
Kompensationsmöglichkeit zu erreichen. Selbst dann liegt die
Entscheidung über die Bewilligung nach § 31a Abs. 1 S. 1 SGB II noch
im Ermessen der Verwaltungsbehörde.
Zur Unmöglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung s. unter
3.
Das
Bundesverfassungsgericht fordert jedoch eine Festsetzung der
Bedarfshöhe durch ein Parlamentsgesetz:
vgl. BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Abs.-Nr. 136.
Abgesehen davon, dass
es nicht nachvollziehbar ist, wieso von Gesetzes wegen die
Kompensation der Leistungskürzung durch Sachleistungen erst bei
Sanktionen über 30 % in Betracht kommt, entspricht es auch nicht dem
rechtsstaatlichen Bestimmtheitserfordernis, über die Gewährleistung
der Sachleistungen und damit über die erheblichen, strafähnlichen
Folgen einer Sanktion einzelne Verwaltungsbehörden ins Blaue hinein
entscheiden zu lassen.
Solches
Verwaltungshandeln ist jedenfalls nicht geeignet, den von Verfassung
wegen gebotenen Leistungsanspruch in jedem Einzelfall sicherzustellen
und damit eine evidente Unterschreitung des Existenzminimums
abzuwehren.
Zur Unmöglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung s. unter 3.
hh) Keine Selbsthilfeobliegenheit zum Erwerb des Existenzminimums
Der Unverletzlichkeit
des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen
Existenzminimums steht auch nicht entgegen, dass die
Sanktionsreglungen der §§ 31a, 32 SGB II dem sozialpolitischen
Selbsthilfegrundsatz entsprechen. Nach diesem Prinzip sollen
erwerbsfähige Menschen ihrerseits alle Mittel ausschöpfen und
Maßnahmen ergreifen, um ihre Hilfebedürftigkeit zu beenden und
letztlich dem (Erwerbs-)Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen zu können.
Der Gesetzgeber hat die
Einfügung der Sanktionsnormen in das SGB II mit diesem Grundsatz
begründet:
„Das Prinzip des Fördern und Forderns besagt, dass eine Person, die
mit dem Geld der Steuerzahler in einer Notsituation unterstützt wird,
mithelfen muss, ihre Situation zu verbessern. Eine Person, die
hilfebedürftig ist, weil sie keine Arbeit findet, kann mit der
Unterstützung der Gemeinschaft rechnen. Im Gegenzug muss sie alles
unternehmen, um ihren Lebensunterhalt wieder selbst zu verdienen.“
Bundestags-Drucksache 17/3404, S. 110.
Die sozialpolitische
Entscheidung des Gesetzgebers, sein gesetzgeberisches Handeln an
diesem Prinzip zu orientieren, ist verfassungsrechtlich nicht
geboten. Es findet seinen Niederschlag lediglich in
einfachgesetzlichen Regelungen. Solche müssen im Kollisionsfall mit
verfassungsrechtlichen Vorgaben zurückstehen. Das gilt in besonderem
Maße bei einer Kollision mit dem nicht beschränkbaren Grundrecht auf
Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs.
1 GG i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG.
Das
Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich ein Menschenrecht
konkretisiert:
BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 88.
Die Erfüllung eines
Menschenrechts darf nicht von Bedingungen abhängen. Denn die
Menschenwürdegarantie gilt absolut. Das Bundesverfassungsgericht weist
ausdrücklich darauf hin:
„Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist
migrationspolitisch nicht zu relativieren.“
BVerfG, 1 BvL 10/10 vom 18.7.2012, Abs.-Nr. 121.
Die Menschenwürde kann
auch arbeitsmarktpolitisch oder fiskalpolitisch nicht relativierbar
sein.
Vgl. Nešković/Erdem, Zu den Auswirkungen der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts zum Asylbewerberleistungsgesetz auf die
verfassungsrechtliche Beurteilung von Sanktionen bei Hartz IV,
30.7.2012,
http://www.wirtschaftundgesellschaft.de/2012/07/menschenrecht-auf-existenz-ein-gastbeitrag-von-wolfgang-neskovic-und-isabel-erdem/ (abgerufen am 12.7.2013)
Im Hinblick auf die
Unantastbarkeit der Menschenwürde „darf ihre Beeinträchtigung
nicht als Druckmittel eingesetzt werden.“ [Hervorh. d. Verf.]
SG Altenburg, S 21 AY 3362/12 ER vom 11.10.2012; ähnlich SG
Düsseldorf, S 17 AY 81/12 ER vom 19.11.2012, Rn. 11.
Das
Bundesverfassungsgericht hat bereits 2005 entschieden, dass die
Pflicht zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens „unabhängig
von den Gründen der Hilfebedürftigkeit“ besteht.
BVerfG, 1 BvR 569/05 vom 12.5.2005, Rn 28.
Aus alledem folgt
zwingend, dass selbst bewusste Zuwiderhandlungen von
Leistungsberechtigte gegen den Selbsthilfegrundsatz insoweit
hingenommen werden müssen, als es um den Kernbereich der
menschenwürdigen Existenz, d. h. Leistungen zur Deckung des
menschenwürdigen Existenzminimums geht. Dem Gesetzgeber bliebe es
unbenommen, in anderen Bereichen der (Sozial-)Leistungsvergabe das
„Solidarprinzip“ zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft mittels
Selbsthilfeobliegenheiten durchzusetzen. Doch im Bereich des
unverfügbaren Existenzminimums kann es keine Obliegenheit des
Grundrechtsträgers geben, sich durch sein Verhalten den Anspruch auf
die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums erst zu
erwerben.
Die hiergegen teilweise
angeführten Warnungen vor einer „allgemeinen Mindestsicherung“ und das
Argument der Unfinanzierbarkeit vorbehaltloser Sozialleistungen, indem
eine Kollision mit dem Lebensstandard der übrigen Bevölkerung und
demnach der „Rückgriff auf das Existenzminimum der dann noch
verbliebenen Steuerzahler“ drohe,
s. stellvertretend BSG-Urteil vom 22.4.2008 – B 1 KR 10/07, juris Rn.
31,
ist angesichts des
vorhandenen Reichtums in unserer Gesellschaft realitätsfern und läuft
zudem auf eine unzulässige Abwägung „Menschenwürde gegen
Menschenwürde“ hinaus.
Vgl. Nešković/Erdem, Zur Verfassungswidrigkeit von Sanktionen bei
Hartz IV, SGb 2012, S. 134 ff. (140).
Neben der
Unverfügbarkeit des Existenzminimums wird bei dieser Argumentation
häufig die gesellschaftliche Realität verkannt.
Es liegen bisher keine
Zahlen darüber vor, inwieweit die in § 31 SGB II kodifizierten
Pflichten Hilfebedürftige in Erwerbsarbeit befördern, also zur
Erleichterung des Sozialsystems überhaupt geeignet sind. Im Gegenteil
spricht einiges gegen diese Annahme: Oft werden Leistungsberechtigten
befristete oder gering bezahlte Tätigkeiten oder teure
Fortbildungsmaßnahmen zugewiesen, deren Erfolge zur Integration in den
ersten Arbeitsmarkt als gering eingeschätzt werden. Die damit
verbundenen Zahlungen an die Träger solcher Maßnahmen belasten den
Steuerzahler erheblich:
vgl. z. B. Bericht des WDR „Sinnlos zur Weiterbildung verdonnert“, vom
31.1.2013:
http://www1.wdr.de/themen/wirtschaft/hartzvier112.html
(abgerufen am 12.7.2013)
Unter den gegenwärtigen
Bedingungen sind auf dem ersten Arbeitsmarkt schlicht nicht genug
akzeptabel bezahlte Arbeitsplätze vorhanden: Die Zahl derer, die nicht
oder unzureichend verdienen und so das Sozialsystem belasten,
übersteigt die Anzahl verfügbarer ausreichend entlohnter
Arbeitsstellen um ein Vielfaches:
vgl. nur Statistik der BA:
http://www.sozialpolitik-aktuell.de/tl_files/sozialpolitik-aktuell/_Politikfelder/Arbeitsmarkt/Datensammlung/PDF-Dateien/abbIV32.pdf
(abgerufen am 12.7.2013)
Dieses Missverhältnis
führt zwangsläufig dazu, dass die jeweils Erwerbstätigen durch
ihre Einzahlung in die Sozialsysteme das Überleben einer gewissen Zahl
nicht einzahlender Mitbürger dauerhaft mit gewährleisten. Ob es
sich dabei um Personen handelt, die vorübergehend oder auf längere
Zeit keinen Zugang zum Arbeitsmarkt finden oder ob es sich um Personen
handelt, die aufgrund wenig aussichtsreicher Perspektiven (Alter,
Behinderung, Betreuungsaufgaben oder Ausbildungsdefizite) oder
aufgrund mangelnder Bereitschaft zur Teilnahme an einer Maßnahme oder
Aufnahme einer Arbeit oder wegen unzureichender Eigenbemühungen dem
Arbeitsmarkt entzogen sind, macht vom Standpunkt der staatlichen
Finanzierbarkeit keinen Unterschied. Angesichts der sehr niedrigen
Regelleistungen des SGB II im Vergleich zum Durchschnittseinkommen der
erwerbstätigen Bevölkerung kann auch nicht angenommen werden, dass
ohne Sanktionstatbestände ein solcher Anstieg der Arbeitslosigkeit zu
verzeichnen wäre, dass das deutsche Sozialsystem notstandsähnlich
gefährdet würde.
Die Folgen von
disziplinierenden Sanktionen können zudem durchaus kostenintensiver
für das Sozialsystem sein als ein unveränderter Leistungsbezug eines
Minimalbeitrags. Der durch die Sanktionsdrohung erzeugte Druck führt
zu einem Anstieg der psychischen und physischen Krankheiten; durch
Leistungskürzungen kommt es außerdem verstärkt zu Mietschulden und
sogar Räumungen von Hilfebedürftigen Mietern. Sanktionierte sind zum
Teil auf Suppenküchen oder Obdachlosenunterkünfte angewiesen.
Vgl. zu den sozialen Auswirkungen von Sanktionen Grießmeier, Der
disziplinierende Staat, 2012, S. 48 ff.; Ames, Ursachen und
Auswirkungen von Sanktionen nach § 31 SGB II, 2009, S. 158.
Die daraus
resultierenden steigenden Gesundheits- und andere Kosten belasten das
Sozialsystem zusätzlich.
Soziale Hilfen komplett
zu entsagen und Bedürftige gegebenenfalls verhungern zu lassen, ist in
einem Sozialstaat schlicht unzulässig und verfassungswidrig. Dann muss
es aber bereits denknotwendig eine unterste Grenze staatlicher
Leistungen geben, die jedem Menschen „unabhängig von den Gründen der
Hilfebedürftigkeit“,
zugestanden werden. Es
muss sich um Leistungen handeln, die für seine menschenwürdige
Existenz unbedingt notwendig sind. Dies ist eine
sozialstaatliche Verpflichtung. Zur Erfüllung dieser Aufgabe hat der
Staat „nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, sich mit den
notwendigen Mitteln auszustatten.“
Bryde, Steuerverweigerung und Sozialstaat, in Aschke/Hase/Schmidt-De/
Caluwe (Hg.), Selbstbestimmung und Gemeinwohl, Festschrift für
Friedrich von Zezschwitz zum 70. Geburtstag, 2005, S. 326 ff.
Diese Wertentscheidung
des Grundgesetzes ist unabänderlich, da sowohl die Menschenwürde aus
Art. 1 Abs. 1 GG als auch das Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1
GG unter dem Schutz der Ewigkeitsklausel des Art. 79 Abs. 3 GG stehen.
Soweit
einfachgesetzliche Regelungen – aus welchen Gründen auch immer, seien
sie willkürlich, migrationspolitisch oder sozialpolitisch intendiert –
nicht nur zu einer verzögerten Auszahlung (z. B. wegen verspäteter
Antragstellung), sondern zu einer absoluten Unterschreitung
dieses Existenzminimums führen, sind sie daher verfassungswidrig.
ii) Absehen von Verhältnismäßigkeitsprüfung
Die Frage einer
möglichen (Un-)Verhältnismäßigkeit der Leistungskürzungen nach §§ 31
ff. SGB II, etwa durch den starren Absenkungsmechanismus oder
schärfere Sanktionen für Unter-25-Jährige, stellt sich damit gar nicht
mehr.
Zur Diskussion in der Literatur um die Verhältnismäßigkeit s.
Anhang.
jj) Zwischenergebnis
Indem sie zu einer
absoluten Unterschreitung unter das von Verfassung wegen gebotene und
durch einfachgesetzlichen Leistungsanspruch konkretisierte
menschenwürdige Existenzminimum führen, verletzen die § 31a i. V. m.
§ 31, 31 b, § 32 SGB II [ggf. § 32
streichen!] das Grundrecht auf Gewährleistung eines
menschenwürdigen Existenzminimums.
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